Hare Krishna in Abentheuer: Ein spirituelles Wunder im Hunsrück

Wer das beschauliche Dörfchen Abentheuer im Hunsrück betritt, erwartet vermutlich Vogelgezwitscher, alte Fachwerkhäuser und viel Natur. Doch dass hier zwischen Bachläufen, Wiesen und Wäldern auch indische Mantras erklingen und der Duft von Sandelholz in der Luft liegt, überrascht. Genau hier hat sich seit Mitte der 1990er-Jahre eine lebendige Hare-Krishna-Gemeinschaft etabliert. Wo einst eine alte Sägemühle stand, befindet sich heute Goloka Dhama – ein spirituelles Zentrum, das weit über die Region hinaus Besucher anzieht.
Die internationale Hare-Krishna-Bewegung (ISKCON), die ihren Ursprung in Indien und den USA nahm, hat sich in diesem 400-Seelen-Dorf fest verwurzelt – in friedlicher Nachbarschaft mit der rheinland-pfälzischen Dorfkultur. Dieses Porträt erzählt von einem Ort, der sich mit Hingabe und Herzenswärme entwickelt hat: vom Ankommen der ersten Mönche über das Alltagsleben im Tempel bis hin zu Begegnungen mit Dorfbewohnern und Gästen.
Die Anfänge: Als eine alte Mühle zur geistigen Heimat wurde
Die Geschichte von Goloka Dhama beginnt am 1. November 1994 – mit der Ankunft einer kleinen Gruppe Krishna-Anhänger in der leerstehenden Hujet-Sägemühle am Ortsrand. Visionär hinter dem Projekt war Wilhelm Kinn, ein gebürtiger Moselaner, der sich der Bhakti-Tradition verschrieben hatte. Er gründete das Tempel- und Seminarzentrum in dem historischen Gebäude und legte damit den Grundstein für eine Gemeinschaft, die damals aus nur wenigen Mönchen bestand.
Die skeptischen Blicke der Abentheurer waren den Neuankömmlingen sicher – zu fremd wirkten die orangenen Gewänder und rasierten Schädel. Doch mit Offenheit und Engagement gelang es der Gemeinschaft rasch, Vorurteile abzubauen. Was als gewagtes Projekt erschien, wurde zu einer festen Institution im Dorf. Heute leben auf dem rund 2,4 Hektar großen Gelände etwa 15 bis 20 Gläubige in klosterähnlicher Gemeinschaft. Der Name Goloka Dhama bedeutet in der hinduistischen Überlieferung „geistige Welt Krishnas“ – und genau so empfanden es viele der ersten Bewohner: als Rückzugsort für die Seele.
Zwischen Räucherstäbchen und Gemüsegarten: Der Alltag im Tempel
Der Tagesrhythmus im Goloka-Dhama-Tempel ist geprägt von spiritueller Praxis, einfacher Lebensweise und tiefem Gemeinschaftssinn. Bereits in den frühen Morgenstunden beginnt der Tag mit Kirtan-Gesängen, Meditation und Gebet. Verehrt werden dabei die Altargötter Sri Sri Radha Madana Mohana, begleitet von duftenden Räucheropfern und traditionellen Ritualen. Es ist der einzige Radha-Krishna-Haupttempel in Deutschland und zugleich ein Pilger- und Ausbildungsort für Gläubige aus dem ganzen Land.
Doch Goloka Dhama ist mehr als ein Ashram. Auf dem Gelände leben auch Familien, Studenten und Helfer. Im großen Garten wächst biologisches Obst und Gemüse, das in der Tempelküche zu vegetarischen Speisen verarbeitet wird. Eine kleine Kuhherde wird artgerecht gehalten, die Milch wird im Haus verwendet – ebenso wie Honig aus regionaler Produktion. Der Ashram verbindet Spiritualität mit gelebter Nachhaltigkeit.
Jedes Jahr zieht das Fest Janmastami – Krishnas Geburtstag – hunderte Gäste an. Musik, Tanz, Blumengirlanden und Theateraufführungen lassen das kleine Dorf für einen Tag wie ein Stück Indien wirken. Die farbenfrohen Feste, aber auch die tägliche Gastfreundschaft prägen den Ruf von Goloka Dhama weit über den Hunsrück hinaus.
Gelebte Integration: Krishna-Spiritualität trifft Hunsrück-Herzlichkeit
Von Anfang an suchte die Gemeinschaft den Dialog mit der Dorfgemeinschaft – und wurde mit offenen Armen empfangen. Die Devotees leben zwar fleisch- und alkoholfrei und zurückgezogen, verstehen sich jedoch als Teil des Dorfes. Viele von ihnen stammen selbst aus Deutschland oder Europa, einige wuchsen christlich auf – das erleichterte den kulturellen Brückenschlag.
Ob beim Nationalparktag, auf dem Weihnachtsmarkt oder bei Gemeindefesten: Die Krishna-Anhänger beteiligen sich mit Essensständen, Musik oder einfach helfenden Händen. Statt Glühwein gibt es yogischen Chai, statt Bratwurst ein würziges Tofu-Curry – das in Abentheuer inzwischen zum Geheimtipp geworden ist.
Ein besonders eindrucksvolles Zeichen der Solidarität zeigte sich 2022: Als Geflüchtete aus der Ukraine Schutz suchten, öffnete Goloka Dhama seine Tore. Heute leben rund 25 Ukrainer im Tempel mit – vollständig eingebunden in Alltag, Gartenarbeit und gemeinsames Kochen. Die Gemeinde zählt inzwischen rund 40 Bewohner – eine bunte Gemeinschaft mit Herz.
Eine Anekdote, die das Miteinander auf den Punkt bringt: Als einmal die Feuerwehr zu einem Einsatz im Tempel gerufen wurde, endete der Abend bei Chai und Gebäck – mit lachenden Gesichtern auf beiden Seiten. Fremdheit? Fehlanzeige. Hier ist man Nachbar unter Nachbarn.
Offen für alle: Ein Sonntagsfest mit Fernwirkung
Ein besonderes Highlight ist das öffentliche Sonntagsfest im Tempel. Jeden Sonntag ab 13 Uhr treffen sich Gäste aus der Umgebung zu Gesängen, Vorträgen und einem üppigen vegetarischen Buffet – kostenlos, aber mit viel Liebe zubereitet. Die Veranstaltungen ziehen längst Besucher aus über 100 Kilometern Entfernung an. Einige Gäste kommen wöchentlich, andere entdecken hier erstmals Yoga, Mantra-Gesang oder indische Küche.
Wer länger bleiben möchte, kann im angeschlossenen Gästehaus übernachten. Plattformen wie Workaway bringen junge Menschen aus aller Welt nach Abentheuer, die für einige Wochen im Garten helfen oder Tempelräume pflegen – und dabei Teil der Gemeinschaft werden.
Im Sommer 2023 etwa wurde mit Fördermitteln der EU ein internationales Jugendcamp organisiert. Teilnehmer aus zehn Ländern schlugen ihre Zelte am Traunbach auf, sangen am Lagerfeuer, tauschten Kulturen und Lebensgeschichten. Die Idee dazu kam von einem Krishna-Kind aus dem Ort, das von einem ähnlichen Camp in Schweden inspiriert zurückkehrte. In Abentheuer wurde daraus ein unvergessliches Erlebnis.
Ein Blick in die Zukunft – und zurück auf ein versäumtes Abenteuer
Nach über 30 Jahren ist klar: Die Hare-Krishna-Gemeinde ist ein fester Bestandteil von Abentheuer geworden – mit beeindruckender Kontinuität und Vision. Aktuell entsteht ein großes spirituelles Seminarzentrum mit Hotelbetrieb, das Retreats, Yogakurse und Erholungsaufenthalte ermöglichen soll. Geplant sind über 40 Zimmer, Hütten am Fluss und ein neuer Meditationsraum. Ziel ist es, Menschen jeder Weltanschauung einen Ort der Ruhe und Einkehr zu bieten.
Die Leitung bleibt in erfahrenen Händen: Gründer Wilhelm Kinn lebt weiterhin vor Ort, unterstützt von einem engagierten Team jüngerer Devotees, die frische Impulse einbringen. Auch die digitale Präsenz soll gestärkt werden – mit zweisprachigen Inhalten und interaktiven Angeboten für ein breiteres Publikum.
Und während Goloka Dhama die nächsten Schritte in die Zukunft geht, wirft ein Beobachter aus der Nachbarschaft einen stillen, fast wehmütigen Blick zurück. Seit 1998 lebt er in Abentheuer, hat die Ankunft der Krishna-Gemeinde miterlebt – und sich nie die Zeit genommen, selbst den Tempel zu besuchen. „Ich glaube, ich habe da etwas versäumt“, gibt er offen zu. Die jüngste Recherche, die persönliche Beschäftigung mit der Geschichte von Goloka Dhama, hat etwas ausgelöst: Respekt, Neugier – und das feste Vorhaben, das Versäumte bald nachzuholen.
Denn manchmal liegt ein Abenteuer nicht in der Ferne, sondern direkt vor der eigenen Haustür.
Und während Goloka Dhama die nächsten Schritte in die Zukunft geht, schaue ich – als jemand, der seit 1998 in Abentheuer lebt – mit einem stillen, fast wehmütigen Blick zurück. Ich habe die Ankunft der Krishna-Gemeinde von Anfang an miterlebt, damals noch aus der Distanz. Nie habe ich mir die Zeit genommen, den Tempel persönlich zu besuchen. Heute, nach der intensiven Recherche für dieses Porträt, muss ich gestehen: Ich glaube, ich habe da etwas versäumt.
Denn was ich entdeckt habe, spricht mich auf eine Weise an, die ich nicht erwartet hätte. Das, was hier gewachsen ist, möchte ich mir jetzt endlich selbst ansehen.
Denn manchmal liegt ein Abenteuer nicht in der Ferne – sondern direkt vor der eigenen Haustür.
Wolfgang Herfurth – Mai 2025