Ein Tag, der atmet
Die Familie Herfurth in Birkenfeld (Frühjahr 1885)

Vorwort
Warum schreibe ich dieses Buch? Die Antwort liegt in meiner Familie, in meiner Herkunft. Die Geschichte, die hier erzählt wird, handelt von meinem Urgroßvater Valentin Adolf Herfurth. Ich bin sein Urenkel – und zugleich der Letzte in dieser direkten Namenslinie. Meine beiden Töchter tragen den Namen nicht mehr weiter. Mit diesem Wissen ist mir bewusst geworden, dass eine Familiengeschichte an ihrem Ende steht. Gerade dieser Gedanke, verbunden mit meiner wachsenden Leidenschaft für die Geschichte Birkenfelds, hat mich dazu bewegt, dieses kleine Buch zu schreiben.
Es ist nur ein Tag, eine Momentaufnahme aus dem Jahr 1885 – und doch ein Stück Heimatgeschichte. In dieser Zeit veränderte sich Birkenfeld entscheidend: 1880 brachte die Eisenbahn den Anschluss an die große Welt, 1885 wurde das Elisabethkrankenhaus eröffnet. Es waren Jahre voller Aufbruch und Wandel, die Spuren bis heute hinterlassen haben. Dieses Buch ist für mich Erinnerung und Vermächtnis zugleich. Es soll die Vergangenheit lebendig halten – nicht nur für mich, sondern auch für alle, die hier in der Region aufgewachsen sind oder ihre Wurzeln suchen. Ich widme es meinen Enkeln Joel, Noah & Lunes, sowie meiner Nichte Tina Moreno, die sich für meine Arbeit interessiert und zu der mich ein ganz besonderes Verhältnis verbindet. Den Lesern wünsche ich Freude an dieser Reise in die Geschichte – und vielleicht auch den einen oder anderen neuen Blick auf unsere Heimat.
Über den Autor
Wolfgang Herfurth, geboren am 3. Februar 1954 in Birkenfeld/Nahe, wuchs in der Ingenieur-Göring-Straße auf. Nach einer handwerklichen Ausbildung und verschiedenen Stationen in Betrieben der Region begann 1974 sein Wehrdienst bei der Bundeswehr. Aus den zunächst zwölf geplanten Monaten wurden acht Jahre: Als Munitionsunteroffizier an der Artillerieschule Idar-Oberstein erlebte er eine prägende Zeit, die seine weitere Laufbahn bestimmte. Nach dem Wechsel in den Zivildienst arbeitete er mehrere Jahre bei den Streitkräften in Birkenfeld und in Neubrücke als Hochdruckkesselwärter, bevor er an die Artillerieschule zurückkehrte. Dort fand er seine berufliche Heimat im Bereich der Medienarbeit. Vom Kabelträger entwickelte er sich zum Medienfachmann und gestaltete Ausbildungs- und Informationsformate für die Bundeswehr.
Mit 55 Jahren trat er in den Vorruhestand. Seine Leidenschaft für Geschichte und Heimatpflege führte ihn zu neuen Projekten. 2014 gründete er die Facebook-Gruppe „Alte und neue Ansichten der VG Birkenfeld“, die heute über 1.800 Mitglieder zählt. 2024 folgte die Gründung der Webseite wolftensor.online, die mittlerweile mehr als 10.000 historische Bilder sowie zahlreiche Beiträge über Vereine, Persönlichkeiten und Orte der Verbandsgemeinde Birkenfeld umfasst. Mit akribischem Blick für Details widmet sich Wolfgang Herfurth seither der Aufarbeitung und Vermittlung lokaler Geschichte. Sein aktuelles Projekt, die Erzählung „Ein Tag der Familie Herfurth in Birkenfeld-Nahe im Frühjahr 1885“, verbindet persönliche Familiengeschichte mit lebendigem Heimatbild.
Prolog des Urenkels
Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Es ist eine dieser Erinnerungen, die sich nicht in Daten oder klaren Bildern fassen lässt, sondern in Gefühlen, die tief im Herzen verwurzelt sind. Die Hand meines Großvaters Christoph, groß, warm und trocken, umschloss die meine. Seine Haut fühlte sich an wie feines, oft gebrauchtes Leder, geprägt von einem langen Leben. Wir gingen über ein Marktfest in Birkenfeld. Die Luft war ein Kaleidoskop aus Gerüchen: gebrannte Mandeln, feuchtes Laub, der Staub, den die vielen Füße aufwirbelten. Die Welt um mich herum war laut, bunt und überwältigend. Er kaufte mir einen Luftballon. Rot, glänzend, prall gefüllt mit Leichtigkeit, ein kleines Wunder, das an einer dünnen Schnur gegen den Himmel zog. Auf dem Heimweg hielt ich den Ballon – und er mich. Seine Schritte waren langsam, bedächtig, und ich musste mich beeilen, um Schritt zu halten, aber seine Hand ließ mich nie los. Sie war mein Anker, meine Orientierung in der lärmenden Menge. Heute, viele Jahrzehnte später, weiß ich:
Diese feste, ruhige Hand, die mich führte, war selbst einmal geführt worden. Sie war selbst einmal klein gewesen und hatte vertrauensvoll in der Hand seines Vaters gelegen, meines Urgroßvaters Valentin Adolf Herfurth. Es ist eine Kette von Berührungen, die sich durch die Zeit zieht, über die Brüche und Stürme eines Jahrhunderts hinweg. Von Hand zu Hand, von Tag zu Tag – so schließt sich die Linie zwischen 1885 und heute. Geschichte wird oft in großen Linien erzählt, in Verträgen und Kriegen, in Daten und Dynastien. Aber das wahre Leben findet in den kleinen Bewegungen statt, im Alltag, in der Art, wie ein Vater seinen Sohn zur Schule bringt oder wie eine Stadt zu einer neuen Zeit aufbricht. Was folgt, ist kein Archivblatt, kein verstaubtes Dokument aus einer vergessenen Zeit. Es ist der Versuch, die Lücken zwischen den Fakten zu füllen, einen Tag wiederzubeleben, der längst vergangen ist, aber dessen Echo noch immer nachhallt. Es ist ein Tag, der atmet: Bahn, Apotheke, Schule, Verein, Krankenhaus. All diese Institutionen bilden das Gerüst, aber das Fleisch und Blut sind die Menschen, die in ihnen lebten und wirkten. Vielleicht liest man Geschichte am besten dort, wo sie jemand an der Hand hat.
ERSTER TEIL: DER MORGEN
Das neue Herzschlagen
Birkenfeld erwachte nicht mehr wie früher. Die Stille der Kleinstadt, die über Jahrhunderte nur vom Krähen der Hähne, dem Läuten der Kirchenglocken und dem Klappern der Pferdefuhrwerke unterbrochen worden war, hatte sich verändert. Seit dem 15. Oktober 1880 hatte die Stadt ein neues Herzschlagen. Es war ein Rhythmus, der nicht aus der Natur kam, sondern aus Eisen, Dampf und der unerbittlichen Präzision des Fahrplans. Noch ehe die Dächer der Stadt ganz aus der Dämmerung traten, ehe das erste Licht des Frühlingstages die sanften Konturen der Hunsrückhügel nachzeichnete, hörte man es. Es begann als ein fernes Grollen, das sich durch den feuchten Boden fortpflanzte, eine Vibration, die man mehr spürte als hörte. Dann, an der Rampe des neuen Bahnhofs, der wie ein Vorposten der Moderne am Rande der alten Stadt stand, ertönte der kurze, scharfe Pfiff der Lokomotive. Ein schriller Ton, der die feuchte Morgenluft durchschnitt. Darauf folgte das schwere Rollen der Waggons über die eisernen Schienen, ein metallisches Mahlen, das den Boden erzittern ließ. Das Klacken der Haken, wenn die Wagen aneinanderstießen, ein gedämpfter Zuruf an der feuchten Mauer des Güterschuppens. Die Moderne war angekommen, nicht als ferne Idee, sondern als physische Präsenz, die den Takt der Zeit vorgab.
In der Bahnhofstraße, die ihren Namen diesem neuen Zentrum der Bewegung verdankte, kaum 150 Meter entfernt, stand im Obergeschoss eines schmalen, aber soliden Hauses ein Fensterflügel auf einen Spalt. Die Luft, die hereinzog, war kühl und trug den Geruch des Frühlings in sich – feuchte Erde, das erste Grün der Knospen –, aber darunter lag etwas Neues, etwas Scharfes: Ein feiner Faden Kohlenrauch, schwer und schwefelig, stand über dem Kopfsteinpflaster, ein Geruch von Ruß und heißem Öl, der sich mit der Morgenfrische mischte. Im Schlafzimmer war die Stille noch dicht, das Licht grau und diffus. Valentin Adolf Herfurth lag wach. Er rührte sich nicht sofort. Er lauschte. Auf der anderen Bettseite war es schon leer, aber die Wärme war noch spürbar. Ein sanfter Abdruck im Federbett zeigte, wo Mathilde gelegen hatte. Sie war seit der ersten Dämmerung auf den Beinen, zusammen mit Lina, der Aufwartefrau, in der Küche beschäftigt. Das war die Ordnung der Dinge, der stille Motor des Haushalts, der nie stillstand. Valentin Adolf Herfurth, Gymnasiallehrer, Organist, Dirigent des Liederkranzes und Vorsitzender des Turnvereins, ein Mann der Ordnung, des Taktes und des Maßes, legte die schwere Daunendecke zurück. Er lauschte einen weiteren Atemzug lang in den Morgen, sammelte die Geräusche des erwachenden Hauses und der Stadt und ordnete sie in seinem Kopf. Das ferne Zischen des Dampfes, das Klappern von Milchkannen auf einem Karren, das leise Knarren der Dielen im Flur. Es war der Klang eines geordneten Lebens, und er war einer derjenigen, die diese Ordnung hielten. Dann stand er auf.
Haltung am Morgen

Valentin Adolf Herfurth
Die Dielen waren kalt unter seinen nackten Füßen. Er ging zum Waschtisch in der Ecke, ein einfaches Möbelstück aus dunklem Holz, das von Generationen von Händen poliert worden war. Dort warteten der schwere Steinkrug und die weiße Porzellanschüssel, bereit für das morgendliche Ritual. Er goss das Wasser ein; es war am Abend zuvor vom Brunnen geholt worden und hatte die Kälte der Nacht angenommen. Das Brunnenwasser biss an Stirn und Nacken, als er es mit hohlen Händen über die Haut führte. Ein scharfer, klärender Schock, der die Sinne schärfte und die letzte Müdigkeit vertrieb. Es war die kurze, gründliche Katzenwäsche der Zeit; keine Verschwendung von Wasser oder Zeit, sondern eine effiziente Reinigung von Körper und Geist. Ein raues Leinentuch lag bereit. Er trocknete das Gesicht und den kurzen, sorgfältig gestutzten Bart, der seinem Gesicht eine gewisse Strenge verlieh. Vor dem kleinen Spiegel, dessen Glas leicht blind war, zog er mit zwei Fingern den Scheitel im noch feuchten Haar.
Die Linie war gerade, präzise, eine Demonstration von Kontrolle und Willenskraft. Bevor er sich ankleidete, hielt er inne, faltete die Hände und sprach still sein Morgengebet. Es waren die immer gleichen Worte, ein Ritual, das dem Tag Struktur gab, noch bevor er richtig begonnen hatte. Ein Dank für die Ruhe der Nacht, eine Bitte um Führung für den Tag, ein Moment der inneren Einkehr, der ihm den inneren Halt gab, den er brauchte, um den Anforderungen des Tages gerecht zu werden. Dann die Kleidung. Jedes Stück hatte seinen Platz, jede Bewegung war Routine, eine Abfolge von Handgriffen, die er im Schlaf beherrschte. Zuerst das weiße Kragenhemd, gestärkt und makellos, das Gefühl des Stoffes auf der Haut war vertraut und beruhigend. Darüber die Weste, ebenfalls gesteift, die dem Oberkörper Halt gab und ihm eine aufrechte Haltung verlieh. Schließlich der dunkle Gehrock, die Uniform des Bürgers, das Zeichen seines Standes und seiner Verantwortung, die Würde und Seriosität ausstrahlte. Die Krawatte wurde mit ruhigen Fingern gebunden, der Knoten saß sauber und fest, ein Symbol der Ordnung, das den Hals umschloss. Er zog die goldene Uhr aus der Westentasche, prüfte die Zeit – kurz nach sechs – und ließ sie wieder zurückgleiten. Die Kette bildete einen dezenten Bogen auf dem dunklen Stoff der Weste, ein Zeichen von Pünktlichkeit und Verlässlichkeit. Ein letzter Blick in den Spiegel. Das Gesicht war ernst, die Augen wach und klar. Ein Strich mit dem Tuch über die Lederstiefel, bis sie matt glänzten. Haltung, das war seine Überzeugung, beginnt am Morgen. Mit der Sorgfalt im Kleinen, mit der Disziplin gegenüber sich selbst, mit der Beherrschung von Körper und Geist. Er war bereit für den Tag.
Der Takt der Schienen
Aus der Ferne antwortete der Bahnhof, als gehöre er seit jeher zum Tageslauf, als sei er Teil dieses morgendlichen Rituals, ein integraler Bestandteil der Stadtlandschaft. Die Geräusche waren nun lauter, definierter, sie bildeten eine komplexe Klangkulisse, die den Morgen strukturierte. Das schwere Rollen eines Karrens über Bohlen, das dumpfe Aufschlagen einer Kiste auf der Rampe, das Knirschen von Eisen auf Eisen. Die Stimme des Frachtagenten hallte über den Platz, rau vom frühen Aufstehen und vom Rufen gegen den Lärm: „Glaswaren – vorsichtig!“ Er rief Namen auf, eine Liste von Empfängern, die auf ihre Waren warteten, eine Verbindung zwischen der Stadt und der Außenwelt. Ein Briefsack schlug dumpf auf den Boden des Postwaggons, ein Zeichen, dass Nachrichten aus der Ferne angekommen waren. Ein Schaffner zählte laut die Pakete, seine Stimme war monoton und rhythmisch, ein menschliches Metronom im Takt der Maschinen. Ein Bursche eilte vorbei, unter dem Arm ein schmales Paket, das Valentin Adolfs Aufmerksamkeit erregte. Er konnte es nicht sehen, aber er stellte es sich vor: sorgfältig verschnürt, mit dem Stempel „Musikalien, Mainz“. Die Noten für den Liederkranz, der Chor, den er leitete, eine Freude, die ihn den ganzen Tag begleiten würde. Die Birkenfelder Zweigbahn, ein Triumph für Bürgermeister Eissel, der unermüdlich für den Anschluss an das Schienennetz gekämpft hatte, hatte die Stadt aus ihrer Isolation befreit. Die Welt war näher gerückt. Mainz, Frankfurt, selbst Berlin waren nun erreichbar. Die Wege waren kürzer geworden; man spürte es schon vor dem ersten Brot, in der Art, wie der Tag begann, in der Pünktlichkeit, die nun von jedem erwartet wurde, in der Geschwindigkeit, mit der sich das Leben veränderte.
Am Güterschuppen, so malte es sich Valentin Adolf aus, las der Agent nun laut vor, was in sauberer Kanzleischrift ohnehin auf den Frachtbriefen stand. Eine amtliche Bestätigung der Realität, ein Ritual der Kontrolle und der Ordnung. „Glaswaren vorsichtig!“; „Musikalien, Mainz“; „Zinkleinwand“ für den Dachdecker, der auf das Material wartete. Ein Bursche legte die schwere Bohlenbrücke zwischen Waggon und Rampe, eine Verbindung zwischen dem Zug und dem Boden der Stadt. Der Schaffner tippte sich mit dem Bleistiftstummel an die Mütze, ein kurzer Gruß an den Agenten. „Zwei Kisten für die Apotheke Gleimann“, sagte der Agent und zog einen Durchschlag aus seiner ledernen Mappe. Gleimann, sein Schwiegervater, der Apotheker, der die Stadt mit Medikamenten versorgte. Wahrscheinlich Nachschub für das neue Krankenhaus, das vor kurzem eröffnet worden war. Er prüfte das Siegel sorgfältig, bevor er es brach. Die Kordel knirschte über das raue Holz der Kisten. Als der Deckel geöffnet wurde, roch es kurz nach Leim und Papierstaub, ein Geruch der Ferne, der sich mit dem heimischen Duft von feuchtem Holz und Kohle mischte.
Ein Landwirt wartete ungeduldig auf seinen Sack Saatgut. Er scharrte mit dem Absatz seiner schweren Stiefel auf dem Pflaster, seine Gedanken waren schon auf dem Feld. Das Wetter war günstig, die Erde war bereit. Heute noch in die Erde, wenn der Tag hielt, was der Morgen versprach. Die Bahn brachte nicht nur Waren, sie brachte auch eine neue Dringlichkeit, einen neuen Rhythmus für die Arbeit. „Die Wege sind kürzer geworden“, sagte der Schaffner beiläufig zu dem Landwirt, während er die nächste Kiste abstempelte. „Aber die Liste bleibt gleich lang.“ Es war eine Feststellung ohne Klage, nur ein Ausdruck der neuen Realität, die mehr Arbeit in kürzerer Zeit bedeutete, eine Ambivalenz des Fortschritts, die Valentin Adolf wohl verstand. Ein kurzer Pfiff am Prellbock signalisierte die Ankunft des nächsten Zuges. Die Bremsen seufzten schwer, ein Geräusch wie ein schweres Ausatmen. Die Lokomotive kam zur Ruhe, zischend entwich der Dampf. Ordnung war hier kein abstrakter Begriff. Ordnung war ein Klang, ein Rhythmus, der den Tag bestimmte und die Stadt am Leben hielt.
Frühstück am Familientisch

Illustration — Birkenfeld 1885: Frühstück in der Herfurth-Wohnküche mit Kachelofen; der Vater liest den „Birkenfelder Landbote“, fünf Kinder speisen.
Als Valentin Adolf Herfurth die Treppe hinunterstieg und die Küche betrat, trat er in eine Welt, die bereits in vollem Gange war. Der Haushalt funktionierte wie ein Uhrwerk, jede Hand fand ihre Aufgabe, ohne dass viele Worte nötig waren. Im Flur wurden Kinderstimmen wach, ein leises Getrappel von Füßen auf den Dielen der Treppe, ein unterdrücktes Kichern, gefolgt von einem mahnenden „Psst!“. In der Küche knackte das Holz im großen, gusseisernen Ofen. Lina, die Aufwartefrau, eine hagere Frau mit freundlichen Augen und zupackenden Händen, hatte das Feuer bereits vor der Dämmerung entfacht. Die Wärme breitete sich langsam im Haus aus, verdrängte die Kälte der Nacht aus den Ecken. Der Geruch von brennendem Holz mischte sich mit dem Duft von Malzkaffee und warmer Milch, ein vertrauter Geruch von Zuhause, der Geborgenheit vermittelte. Mathilde Herfurth, geborene Gleimann, die Tochter des Apothekers, eine Frau von ruhiger Ausstrahlung und praktischem Verstand, stand am großen Küchentisch. Ihr dunkles Haar war bereits ordentlich zu einem Knoten gebunden, eine weiße Schürze schützte ihr Kleid. Sie war die ruhige Kraft im Zentrum dieses morgendlichen Wirbels, die Dirigentin dieses Orchesters des Alltags. Sie prüfte die Hafergrütze, die langsam auf dem Herd quoll, stellte die Kanne Malzkaffee beiseite, schnitt das dunkle Roggenbrot vom Bäcker am Kirchplatz in gleichmäßige Scheiben. Auf dem Familientisch, bedeckt mit einem einfachen, aber sauberen Leinentuch, standen Butter in einem steinernen Topf, selbstgemachte Hagebuttenmarmelade aus dem letzten Herbst, ein Schälchen Honig von einem Imker aus der Umgebung.
Zinntassen warteten auf den Kaffee, zwei Lätzchen lagen bereit für die Kleinsten. Die Kinder kamen nacheinander an den Tisch, gewaschen und gekämmt, jedes mit seiner kleinen Aufgabe. Die Ordnung des Haushalts spiegelte sich in ihren Bewegungen wider, eine Choreographie des Alltags, die sie von klein auf lernten. Karl August, acht, beinahe neun, der Älteste, führte das Brotmesser für die letzten Scheiben mit ernster Miene und hielt sie gleichmäßig, eine Verantwortung, die ihn sichtlich stolz machte.
Elise Amalie (6) strich Butter auf die Brote und hatte zugleich ein wachsames Auge für ihre jüngere Schwester Maria Mathilde (4). Maria trug die Tassen mit beiden Händen so sorgsam zum Tisch, als trüge sie feinstes Porzellan aus der guten Stube, ihre Stirn war in Konzentration gerunzelt. Der kleine Adolf (2) bestand darauf, selbst zu löffeln, was meist mit einer gewissen Unordnung verbunden ist, die geduldig toleriert wurde, eine Übung in Geduld für alle Beteiligten. Und dann war da noch Christoph Martin Friedrich, knapp anderthalb. Er saß erst auf Linas Arm, die ihn liebevoll wiegte, dann sicher in der hohen Kinderbank am Tisch. Valentin Adolf betrachtete seinen jüngsten Sohn, seine blonden Locken, seine neugierigen Augen, die die Welt entdeckten. Aus diesem kleinen Jungen würde einmal der Großvater des Autors werden; ein gütiger, liebevoller Opa, dessen ruhige Hand Sicherheit gab. Würde sein Vater das ahnen, während er nun den Anblick seiner Familie aufnahm, dass dieser kleine Mensch die Brücke in ein anderes Jahrhundert schlagen würde? Er würde wohl nur leise nicken, im Vertrauen auf die Ordnung der Zeit, auf die Kontinuität der Generationen, die sich von Hand zu Hand fortsetzte.
„Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.“ Valentin Adolf sprach das Tischgebet. Der Ton war leise, aber er ordnete alles. Die Kinder falteten die Hände, die Köpfe senkten sich. Für einen Moment herrschte Stille, nur das Knistern des Feuers und das Ticken der Wanduhr waren zu hören. Dann begann das Frühstück. Der Alltag entfaltete sich in vertrauten Bahnen. Karl reichte die Becher, Elise schob Maria die kleine Tasse zu. Mathilde schöpfte die Grütze in die Teller. Lina wischte einen Tropfen Milch am Tischrand fort, ihre Bewegungen waren flink und unauffällig. Die mütterlichen Ermahnungen waren kurz und präzise, die sanfte Disziplin des Alltags, die den Rahmen setzte: „Karl, ruhiger.“ – „Elise, die kleine Tasse.“ – „Adolf, der Löffel bleibt im Teller.“ – „Christoph, jauchzen ja, schütten nein.“ „Karl,“ sagte Valentin Adolf Herfurth nach dem ersten Löffel Grütze, seine Stimme ruhig und bestimmt. Er blickte seinen ältesten Sohn an. „Heute ist dein erster Tag in der Sexta. Ein wichtiger Schritt. Um acht beginnt die Stunde.“ Es war ein Übergang, der den Ernst des Lebens ankündigte, der Eintritt ins Gymnasium, der Beginn einer neuen Phase der Bildung und der Verantwortung. Mathilde legte ihrem Sohn ruhig die Hand auf die Schulter, spürte die Anspannung unter dem dünnen Stoff seines Hemdes, ein Zeichen der Ermutigung und Unterstützung.
„Ich bringe dich um Viertel vor acht bis zum Schultor. Wir gehen pünktlich los.“ Sie wandte sich ihm zu. „Hast du alles beisammen? Schiefertafel, Griffel, Schwämmchen – alles im Beutel?“ Karl nickte ernst und rückte seine Kappe zurecht, die er schon am Frühstückstisch trug, als Zeichen seiner neuen Rolle als Gymnasiast. „Jawohl, Vater.“ „Dann gilt, was auch für uns gilt,“ sagte der Vater leise, sein Blick ruhte auf seinem Sohn, prüfend und liebevoll zugleich. „Ruhig atmen, ordentlich stehen, sauber schreiben. Haltung bewahren, auch wenn es schwierig wird. Der Rest findet sich.“ Es waren die Grundsätze, nach denen er selbst lebte und die er seinen Kindern vermitteln wollte, die Essenz seiner Philosophie.
Das neue Wort

„Illustration — Szene: Anfang des Fußballsports in England (1845)“
Elise passte auf den kleinen Adolf auf, der mit seinem Löffel energisch in der Grütze stocherte, als suche er einen verborgenen Schatz. Währenddessen bindet Lina den Brotbeutel für Karl zu, ein Apfel und ein Stück Brot für die Pause. Mathilde wischte sich die Hände am Tuch ab, das an ihrer Schürze befestigt ist. Sie warf ihrem Mann einen kurzen Blick zu, ein Zeichen, dass sie etwas besprechen möchte, das ihr auf dem Herzen lag. „Adolf,“ sagte sie halblaut und deutete mit einem unmerklichen Nicken auf ihren ältesten Sohn. „Der Große hat gestern auf dem Kirchplatz ein Wort aufgeschnappt. Es lässt ihn nicht mehr los. Fußball. Was ist das eigentlich genau? Es klingt so… ungestüm, so fremdartig.“ Herfurth legte seinen Löffel nieder und sah Karl an. Sein Blick war forschend, aber nicht streng. Er war immer interessiert an den Dingen, die seine Kinder beschäftigten, auch wenn er sie nicht immer guthieß. „Nun, Karl August? Erzähl selbst. Was hast du denn gesehen oder gehört?“ Ermutigt durch die Aufforderung seines Vaters, sprudelte es aus Karl heraus. Die Zurückhaltung, die er eben noch gezeigt hatte, wich einer kindlichen Begeisterung, die seine Augen zum Leuchten brachte. „Da waren die großen Jungen vom Sägewerk, Vater. Auf der Wiese hinter der alten Lohgerberei. Sie hatten einen Ball aus Leder, ganz rund und fest aufgepumpt, nicht nur einen aus Stofflumpen. Sie haben ihn mit den Füßen getreten, einer zum anderen, und sind ihm alle hinterhergejagt, ganz schnell. Es war ein wildes Durcheinander, aber es sah aus, als ob sie genau wussten, was sie taten.“ Er hielt kurz inne, um seine Gedanken zu ordnen, die Bilder wieder vor sich zu sehen. „Dann hat einer gerufen ‚Tor!‘, und alle haben gejubelt, obwohl gar kein richtiges Tor da war, nur zwei Steine auf dem Boden.
Sie sind wild durcheinandergelaufen, Vater, ohne Reihe und Glied, aber es war spannend.“ Er fügte leise hinzu: „Es sah nach Spaß aus.“ Herfurth lächelte nachsichtig. Er hatte von dieser neuen Mode gehört, die aus England herübergekommen war und sich langsam in den Städten ausbreitete, eine Mode, die er mit einer gewissen Skepsis betrachtete. „Ah, das. Das ist ein Spiel aus England, mein Sohn. Eine Modeerscheinung, die wohl bald wieder vergehen wird, wie so viele andere. Manche nennen es gar die ‚englische Krankheit‘, dieses ungezügelte Treiben.“ Er nahm einen Schluck Malzkaffee, bevor er fortfuhr, seine Stimme nahm den Ton des Lehrers an, der die Welt erklärte und in Kategorien einordnete. „Sieh, Karl, wir Deutschen, wir turnen. Das ist etwas ganz anderes.“ Er richtete sich unwillkürlich auf, seine Haltung wurde straffer, als wolle er die Überlegenheit des Turnens demonstrieren, die moralische und physische Überlegenheit. „Das Turnen folgt den Lehren von Turnvater Jahn. Das ist eine geordnete Bewegung, bei der jeder Muskel nach einem klaren Plan gestärkt wird. Es geht darum, den Körper zu stählen, die Disziplin zu fördern, den Willen zu stärken. Es formt den Charakter, es erzieht zur Gemeinschaft und zur Vaterlandsliebe.“ Er machte eine kurze Pause, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. „Dieses ‚Fußball‘ hingegen ist ein ungeordnetes Hinterherlaufen. Es fehlt die Struktur, die Ästhetik der Bewegung, die Kontrolle. Es ist ein Spiel des Zufalls und der rohen Kraft, nicht der Zucht und der Beherrschung.“ Karl hob kurz den Kopf, er wagte einen Einwand, auch wenn er wusste, dass sein Vater in solchen Dingen eine klare Meinung hatte. Seine Augen suchten die des Vaters, eine Mischung aus Neugier und Respekt. „Aber die Jungen waren sehr geschickt, Vater. Einer konnte den Ball hochhalten, nur mit den Füßen. Dürfen wir das auch mal probieren? Nur auf der Wiese?“ „Wir turnen“, wiederholte der Vater freundlich, aber bestimmt. Der Ton duldete keinen Widerspruch. Es war eine Feststellung, die keine Alternative zuließ. „Wir lernen, unseren Körper zu beherrschen, bevor wir uns wilden Spielen hingeben. Ein Turner beherrscht jede Faser seines Leibes.
Das ist der richtige Weg, der Weg der Ordnung und des Maßes. Merk dir das gut, mein Junge. Erst Haltung, dann Spiele.“ (Er ahnte nicht, dass sein Sohn diese Faszination für das runde Leder nie ganz vergessen würde. Die Bilder von den rennenden Jungen auf der Wiese würden ihn begleiten, ein kleiner Funke, der im Verborgenen weiterglimmte. Und er ahnte nicht, dass er selbst alt genug werden würde, um die Gründung des SC Birkenfeld im Jahr 1919 noch mitzuerleben – eine Zeit, in der das „englische Spiel“ längst seinen festen Platz in der deutschen Gesellschaft gefunden haben wird. Die Geschichte hat ihre eigene Ironie, und manchmal kommt die Zukunft in Schuhen daher, die man am Morgen noch nicht sehen kann.)
Die Dinge des Heilens
Nebenher, während das Gespräch über das neue Wort abebbte und die Kinder ihre Grütze aufaßen, berichtet Mathilde vom Tagesplan und den Neuigkeiten aus ihrem Elternhaus. Ihr Vater, der Apotheker Gleimann, sei seit Tagesgrauen in der Apotheke (die später den Namen „Hirsch-Apotheke“ tragen würde). „Die Etiketten für die neuen Lieferungen müssten erneuert werden“, sagte sie. „Und im Garten hinter dem Haus seien die Heilkräuter fällig für den ersten Schnitt. Der Thymian sei dieses Jahr besonders gut.“ Seit die Bahn die Stadt erreicht hatte, hatten sich auch die Dinge des Heilens verändert. Sie kamen anders und schneller als früher. Die Verbindung zur modernen Medizin war hergestellt, die Fortschritte der Wissenschaft erreichten nun auch Birkenfeld. Kisten mit Verbandszeug, das nicht mehr mühsam von Hand hergestellt werden musste, sondern fabrikmäßig produziert wurde, sauber und steril verpackt. Zusammengerollte Zinkleinwand für Umschläge. Große Glasballons mit Carbolsäure zur Desinfektion, ein Mittel, das die Wundheilung revolutioniert hatte, und Flaschen mit Salmiakgeist zur Belebung bei Schwächeanfällen. Alles sauber verschlagen und gestempelt, erreichte nun regelmäßig die Apotheke. „Das ist ein Segen“, sagte Valentin. „Besonders jetzt.“ Jetzt, da in diesem Jahr – seit dem 7. Februar 1885 – das neue Elisabeth-Krankenhaus in Betrieb war.
Ein modernes Haus mit 25 Betten, ein Meilenstein für die medizinische Versorgung in Birkenfeld, ein Symbol für den Fortschritt und die Humanität der Stadt. Träger war der Vaterländische Frauenverein, eine Initiative engagierter Bürgerinnen unter dem Protektorat der Großherzogin Elisabeth von Oldenburg. „Dr. Flick leistet hervorragende Arbeit“, fügte Mathilde hinzu. Dr. Flick, der Birkenfelder Haus- und Distriktsarzt, war nun auch ärztlicher Leiter (Stiftungsarzt) des Krankenhauses. Ein junger, energischer Mediziner, der die neuen Erkenntnisse der Wissenschaft in die Praxis umsetzte und sich unermüdlich für das Wohl der Patienten einsetzte. Die Versorgung der Bedürftigen war ebenfalls organisiert. Kranke, die es sich nicht leisten konnten, erhielten über den Suppenverein eine tägliche warme Mahlzeit. Die Stadt kümmerte sich um ihre Schwächsten, ein Zeichen von sozialer Verantwortung und christlicher Nächstenliebe. Die Fäden der Gemeinschaft waren engmaschig geknüpft, niemand sollte durch das Netz fallen. Als die Turmuhr der evangelischen Kirche sieben schlug, erhob sich Herfurth vom Tisch. Die Pflicht rief. Er nahm seine lederne Mappe, in der die Unterrichtsvorbereitungen steckten, und seinen Hut vom Haken im Flur. „Bis Mittag.“ Ein kurzer Abschiedsgruß an die Familie, ein flüchtiger Kuss auf Mathildes Wange. Er ging voraus zur Schule. Sein Tag war durchgetaktet, jede Minute war verplant: Aufsicht im Hof führen, bevor der Unterricht begann, ein prüfender Blick in die Klassenräume, Kreide bereitlegen für die erste Stunde, die Anwesenheitslisten prüfen. Um Viertel vor acht band Mathilde Karl den Schal um, es war noch kühl draußen, auch wenn die Sonne schon schien. Sie prüfte noch einmal den Inhalt des Schulbeutels: Tafel, Griffel, Schwämmchen. Alles an seinem Platz. Dann nahm sie ihn an die Hand. Gemeinsam traten sie hinaus in den kühlen Morgen. Sie brachte ihn bis zum Schultor, ein stilles Geleit an diesem wichtigen Morgen, ein Übergangsritus, der den Ernst des neuen Lebensabschnitts markierte. Ein letzter prüfender Blick, ein kurzes Nicken. Dann ließ sie seine Hand los, und Karl trat ein in die Welt des Gymnasiums.
Der Weg durch die Stadt
Das kleine Haus der Familie Herfurth stand in der Bahnhofstraße, einer Straße, die den Puls der neuen Zeit atmete, geprägt von der Nähe zum Bahnhof, aber noch immer ruhig genug für eine Familie. Zur Schule nahm Valentin Adolf den Weg nach rechts, stadteinwärts. Die Straßen waren noch feucht vom Tau der Nacht, das Kopfsteinpflaster glänzte im frühen Morgenlicht. In den Ritzen sprießte das erste zaghafte Grün des Frühlings. Der kürzeste Weg führte über die Friedrich-August-Straße zum alten Großherzoglichen Gymnasium, einem ehrwürdigen Gebäude aus hellem Sandstein, dessen Mauern schon viele Jahrgänge von Schülern gesehen hatte. Kaum zweihundert Meter waren es von der Haustür bis zum Schultor, ein kurzer Spaziergang, der kaum Zeit ließ für große Gedanken, aber genug Raum bot, um die Atmosphäre der erwachenden Stadt aufzunehmen. An manchen Tagen, wenn die Zeit es erlaubte und die Stimmung danach war, machte er einen kleinen Umweg über die Hauptstraße, um am Fenster der Apotheke seines Schwiegervaters, Apotheker Gleimann, zu grüßen. Ein kurzer Blickwechsel durch die Scheibe, ein Nicken, ein flüchtiges Lächeln – eine Geste der Verbundenheit, die den Familienzusammenhalt stärkte und den Tag mit einem positiven Gefühl beginnen ließ.
Der Ort hatte seinen eigenen Morgenklang, eine Symphonie des Handwerks, die den Tag einläutete und von fleißiger Arbeit kündete. Es war ein Klang, der sich von dem mechanischen Lärm des Bahnhofs unterschied, ein Klang, der von menschlicher Kraft und Geschicklichkeit erzählte. Beim Schmied in der Seitengasse hörte man das helle und dunkle Hämmern, der Rhythmus von Hammer auf Amboss, ein Klang, der seit Jahrhunderten unverändert war und von der Beständigkeit des Handwerks erzählte. Das Feuer in der Esse loderte, der Geruch von heißem Eisen mischte sich mit dem Rauch der Kohle, vertraut und beruhigend. Beim Böttcher ein paar Häuser weiter sprang ein eiserner Reifen auf ein Holzfass, ein trockenes Knallen, das die Stille durchbrach und von der Fertigstellung eines Produkts kündete. Das Holz ächzte unter dem Druck, ein Zeichen von Spannung und Festigkeit. Vom Lohgerber am Rande der Stadt her wehte der scharfe, unverwechselbare Geruch von gegerbtem Leder und Gerbsäure, und man hörte das Klatschen einer nassen Haut, die auf Holz geschlagen wird, ein dumpfes, sattes Geräusch, das von harter körperlicher Arbeit zeugte. Es waren die Geräusche einer Stadt, die von Handarbeit lebte, einer Stadt, in der jeder seinen Platz und seine Aufgabe hatte. Die Geschäfte öffneten ihre Läden. Der Bäcker hatte bereits die ersten Brote verkauft, der Duft von frischem Gebäck lag in der Luft. Der Metzger hängte die frischen Würste in die Auslage, rot und glänzend. Herfurth ging mit gleichmäßigen Schritten, sein Blick war geradeaus gerichtet, aber seine Sinne nahmen alles wahr. Er grüßte die Nachbarn, die ihre Läden öffneten, die Straße fegten oder auf dem Weg zur Arbeit waren. Ein kurzer Gruß, ein Nicken – die Höflichkeiten des Alltags, die das soziale Gefüge zusammenhielten und das Miteinander prägten. Valentin Adolf Herfurth war eine Respektsperson. Die Schüler zogen ihre Mützen, wenn er vorbeiging. Er war Teil dieser geordneten Welt, ein Hüter der Traditionen in einer Zeit des Wandels.
ZWEITER TEIL: DER VORMITTAG
Das Großherzogliche Gymnasium

Gymnasium – Schneewiesenstraße
Das Großherzogliche Gymnasium war ein imposantes Gebäude, ehrwürdig und streng. Die Mauern aus hellem Sandstein atmeten Geschichte, die hohen Fenster blickten wie Augen auf die Stadt herab. Die Luft in den Gängen roch nach Kreidestaub, Bohnerwachs, altem Papier und dem Schweiß von Generationen von Schülern, die hier über ihren Büchern gebrütet hatten, eine Mischung aus Anstrengung und Ehrfurcht. Hier wurde Wissen vermittelt, aber mehr noch: Hier wurde Haltung gelehrt, der Charakter geformt, die Elite der Zukunft herangebildet. Als Herfurth das Gebäude betrat, war der Schulhof bereits belebt. Kinderstimmen schallten über den Platz, das Geräusch von rennenden Füßen, das Lachen der Jungen, das Klappern der Schiefertafeln in den Schulranzen. Er ging durch die Gänge, sein Schritt war fest und gleichmäßig, seine Präsenz strahlte Autorität aus. Alltag in Ordnung: Hände, Hefte, Haltung – das waren die drei Säulen, auf denen der Unterricht ruhte, die Grundlagen für eine erfolgreiche Bildung. Im Klassenraum der Obertertia war es mucksmäuschenstill, als Herfurth eintrat. Die Schüler, junge Männer an der Schwelle zum Erwachsenwerden, standen neben ihren hölzernen Bänken, die Hände an der Hosennaht, die Blicke nach vorne gerichtet. Die Disziplin war äußerlich perfekt, ein Zeichen von Respekt vor dem Lehrer und der Institution. „Guten Morgen, meine Herren.“ Herfurths Stimme war ruhig, aber fest. Sie füllte den Raum ohne Anstrengung, erreichte jeden Schüler in der letzten Reihe. „Guten Morgen, Herr Lehrer!“ Die Antwort kam wie aus einem Mund, diszipliniert und klar, ein Ritual, das den Beginn der Stunde markierte. „Setzen.“ Die Schüler setzten sich gleichzeitig, das Holz der Bänke knarrte leise. Dann wieder Stille. Die Erwartung war greifbar, die Konzentration auf den Unterricht gerichtet.
Gallia est omnis divisa…
Latein zuerst. Die Sprache der Gelehrten, das Fundament der humanistischen Bildung, die Schule des logischen Denkens. Für Herfurth war Latein mehr als nur eine tote Sprache. Es war ein Instrument zur Schulung des Geistes, eine Disziplin, die Präzision und Klarheit erforderte. Herfurth schlug das Buch auf. Caesar, De Bello Gallico. Der Klassiker, an dem sich der Geist schärfen sollte, der Bericht über die Eroberung Galliens, eine Lektion in Strategie und Macht. Gallia est omnis divisa in partes tres… (Ganz Gallien ist in drei Teile geteilt…) Er sprach die Worte langsam und deutlich aus, die Betonung präzise, als würde er sie in Stein meißeln. Die Worte hatten Gewicht, sie trugen die Last der Geschichte in sich. Dann begann die Übersetzung. Die Schüler wurden reihum aufgerufen, mussten den Text analysieren, die Grammatik erklären, die Bedeutung erfassen. Es war ein rigoroses Training des Verstandes, das keine Nachlässigkeit duldete. Herfurth stand vor der Klasse, die Hände auf dem Rücken verschränkt, eine Haltung, die Aufmerksamkeit und Kontrolle signalisierte.
Sein Blick wanderte über die Reihen, erfasste jede Regung, jede Unsicherheit, jedes Zeichen von Unaufmerksamkeit. Er korrigierte Fehler mit unnachgiebiger Genauigkeit, erklärte die Feinheiten der Syntax, die Struktur des Satzes, die Logik der Sprache. Er lobte gelungene Übersetzungen mit einem knappen Nicken, forderte die Schüler heraus, über das Offensichtliche hinauszudenken, den Sinn des Textes zu erschließen. Die Kreide zeichnete ohne Hast auf der schwarzen Tafel. Satzstrukturen wurden visualisiert, Vokabeln notiert, grammatikalische Regeln erläutert. Herfurths Schrift war sauber und gleichmäßig, ein Vorbild für die Schüler, eine Demonstration von Präzision und Sorgfalt. Wer sauber schreibt, dachte er oft, denkt oft sauberer. Die äußere Form spiegelte die innere Ordnung wider, die Klarheit des Geistes war die Voraussetzung für die Klarheit des Ausdrucks. Er sprach über Cäsar, den Feldherrn, den Politiker, den Schriftsteller. Er sprach über die Bedeutung des Textes für das Verständnis der Geschichte, für die Entwicklung Europas, für die Wurzeln der eigenen Kultur. Der Unterricht war mehr als nur eine Übersetzung, es war eine Reise in die Vergangenheit, eine Begegnung mit den Ideen, die die Welt geformt hatten.
Xénos, Oíkos, Nóstos
Nach Latein folgte Griechisch. Die Sprache der Dichter und Denker, die zweite Säule der humanistischen Bildung, die Quelle der abendländischen Kultur. Homer, Odyssee. Die Herausforderung war größer, die Sprache komplexer, aber auch poetischer, reicher an Nuancen und Emotionen. Herfurth schlug den Hexameter laut an, der Rhythmus des Verses füllte den Raum, eine Melodie aus vergangenen Zeiten, die die Schüler in ihren Bann zog. „Ándra moi énnepe, Moûsa, polýtropon, hòs mála pollà…“ (Singe mir, Muse, den Mann, den vielgewandten, der so sehr viel…). Die Schüler lauschten, fasziniert von der Kraft der Worte, auch wenn sie nicht alles bis ins Letzte verstanden. Die Schönheit der Sprache war spürbar, die Erhabenheit des Epos. Er wählte drei Wörter aus dem Text aus, drei Konzepte, die die Welt der Antike definierten, aber auch heute noch relevant waren, die das Wesen des Menschseins berührten. Er schrieb sie an die Tafel, die griechischen Buchstaben fremd und geheimnisvoll, ein Code, den es zu entschlüsseln galt. Xénos – der Gast, der Fremde.
Das Konzept der Gastfreundschaft, das heilige Gesetz des Zeus, das die Begegnung mit dem Anderen regelte. Er sprach über die Pflicht, den Fremden aufzunehmen, ihn zu schützen, aber auch über die Gefahren, die von ihm ausgehen konnten, über die Ambivalenz der Fremdheit. Oíkos – das Haus, die Familie, der Haushalt. Die Grundlage der Gesellschaft, die Keimzelle der Ordnung, der Ort der Geborgenheit und der Verantwortung. Er sprach über die Verantwortung des Hausherrn, über die Rolle der Frau, über die Bedeutung der Familie als wirtschaftliche und soziale Einheit, als Hort der Tradition und der Werte. Nóstos – die Heimkehr. Die Sehnsucht nach der Heimat, das Ziel der Reise des Odysseus, die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln. Er sprach über die Prüfungen, die man bestehen musste, um nach Hause zurückzukehren, über die Bedeutung von Identität und Zugehörigkeit, über das Gefühl des Ankommens. Er erklärte die Bedeutung dieser Wörter, ihre Relevanz für das Verständnis der Odyssee, aber auch für das eigene Leben. Er schlug die Brücke zwischen der Antike und der Gegenwart, zwischen dem fernen Ithaka und dem nahen Birkenfeld, zeigte den Schülern, dass die Fragen, die Homer stellte, auch ihre Fragen waren.
Die Visitation
Mitten in der Stunde öffnete sich die Tür leise; Direktor und Schulinspektor traten ein. Eine unangekündigte Visitation, eine Überprüfung der Ordnung und des Leistungsstands der Schüler. Die Schüler erstarren, die Atmosphäre im Raum wurde noch angespannter, die Luft schien dünner zu werden. Herfurth ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Er unterbrach seinen Vortrag nicht, seine Stimme blieb gleichmäßig, sein Fokus lag auf den Schülern und dem Stoff. Er fuhr mit dem Unterricht fort, als wäre nichts geschehen. Er rief einen Schüler auf, ließ ihn einen Vers übersetzen. Der Junge stammelte, verhaspelte sich unter dem prüfenden Blick der Vorgesetzten, die Nervosität war ihm anzumerken. Aber Herfurth half ihm geduldig, führte ihn zur richtigen Lösung, ohne ihn bloßzustellen, eine Demonstration von Souveränität und pädagogischem Geschick. Der Direktor und der Inspektor beobachteten das Geschehen schweigend. Sie saßen in der hinteren Reihe, machten sich Notizen, tauschten leise ein paar Worte aus. Ihre Präsenz war spürbar, ein Druck, der auf Lehrer und Schülern lastete. Nach einigen Minuten erhoben sie sich wieder und verließen den Raum, so leise, wie sie gekommen waren. Beim Gehen fiel ein Randwort des Inspektors, das Herfurth auffing: Hygiene. Ein modernes Wort, das nun auch in die Schulen Einzug hielt, ein Zeichen des Fortschritts, das auch vor den ehrwürdigen Mauern des Gymnasiums nicht haltmachte. Wenn Birkenfeld nun ein eigenes Haus für Kranke habe, das neue Elisabeth-Krankenhaus, müsse auch die Schule das Ihre tun, um die Gesundheit der Schüler zu schützen. Sauberkeit, regelmäßiges Lüften, körperliche Ertüchtigung – die Verbindung zwischen Geist und Körper, zwischen Gesundheit und Bildung, wurde immer wichtiger. Herfurth nickte. Er verstand den Zusammenhang. Ordnung betraf nicht nur den Geist, sondern auch den Körper, nicht nur die Schule, sondern die ganze Stadt.
Karl Augusts erste Stunde
Während sein Vater die Obertertianer in den Feinheiten der antiken Sprachen unterwies, erlebte Karl August seinen ersten Tag in der Sexta. Er war acht, beinahe neun. Die Kappe saß ernst auf seinem Kopf, die Schiefertafel lag schwer in der Hand wie eine kleine Pflicht, eine Verantwortung, die nun auf ihm lastete. Er fühlte sich klein zwischen den vielen neuen Gesichtern, die Aufregung mischte sich mit Angst vor dem Unbekannten. Im Korridor roch es nach Kreide und Bohnerwachs, aber auch nach dem Angstschweiß der Neuen. Die Sextaner standen etwas zu aufrecht vor ihrem Klassenraum, weil Aufrechtstehen heute wichtiger war als Atmen. Sie waren die Jüngsten, die Neuen, und sie spürten die Blicke der Älteren auf sich, eine Mischung aus Spott und Neugier. Der Lehrer betrat den Raum, ein junger Mann mit strengem Gesichtsausdruck und einem Rohrstock in der Hand, dem Symbol seiner Autorität. Die Stunde begann. Latein. Auch hier. Gallia est … Der Lehrer setzte die Kreide an die Tafel; ein trockenes Weiß fiel in die Luft, der Kreidestaub tanzte im Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster fiel. Die gleichen Worte wie bei seinem Vater, aber hier klangen sie anders, strenger, fordernder, ohne die Melodie, die sein Vater in die Sprache legte. Karl schrieb die Wörter in feineren Buchstaben auf seine Schiefertafel, als seine Hand eigentlich konnte. Er war nervös, seine Finger zitterten leicht. Er wollte es richtig machen, sauber schreiben, wie sein Vater gesagt hatte. Er streicht die Wörter wieder fort, weil der Griffelschwamm zu nass war und die Schrift verschmierte. Er begann von neuem, diesmal vorsichtiger, seine Stirn war in Falten gelegt vor Konzentration, seine Hand verkrampfte sich um den Griffel. Der Junge links neben ihm flüsterte „nam“, wobei er das U zu sehr liebte, seine Lippen spitzten sich beim Sprechen, eine kleine Eigenart, die Karl auffiel. Der Junge rechts zeichnete mit dem Fingernagel ein unsichtbares Schwert in die Holzplatte des Tisches, weil „Belgae“ für ihn wie eine Truppe von Kriegern klang, die jeden Moment aus dem Buch springen könnten. Die Fantasie der Kinder fand ihre eigenen Wege, auch im strengen Rahmen des Unterrichts. Karl konzentrierte sich auf seine Tafel. Die Zeit verging langsam, die Minuten dehnten sich wie Kaugummi. Sein Blick wanderte zum Fenster. Draußen schien die Sonne, der Himmel war blau. Er dachte kurz an die Wiese hinter der Lohgerberei, an den Lederball, an das Spiel, das sein Vater verboten hatte. Fußball. Ein ungeordnetes Hinterherlaufen. Aber es sah nach Freiheit aus, nach Bewegung, nach Spaß. Als die Handglocke zur Pause rief, blieb Karl einen Herzschlag länger sitzen. Er zählte im Kopf die Endungen nach – a, ae, ae, am, a – die erste Deklination. Nicht, weil jemand es befahl, sondern weil es sich richtig anfühlte, weil es wie Zähneputzen fürs Denken war, wie sein Vater es nannte. Eine Struktur, die Halt gab in der neuen, fremden Umgebung, eine innere Ordnung, die er zu verstehen begann.
Die Hofpause und die Pflicht
In der großen Pause explodierte die angestaute Energie der Schüler. Sie stürmten auf den Schulhof, rannten, schrien, spielten. Der Lärmpegel stieg schlagartig an, ein Kontrast zur Stille der Klassenräume, ein Ventil für den Bewegungsdrang der Jugend. Herfurth hatte Hofaufsicht. Er stand am Rand des Geschehens, unter der großen Kastanie, deren Blätter im Wind rauschten. Er beobachtete das Treiben mit wachsamen Augen, sein Blick wanderte über den Hof, erfasste jede Bewegung, jede Gruppe von Schülern. Er griff nur ein, wenn es nötig war, wenn die Ordnung gefährdet war, wenn das Spiel in Streit umschlug, wenn die Regeln gebrochen wurden. Ein Holzreifen, den ein paar Jungen als Spielzeug benutzten, knallte gegen die Brunnenmauer. Zwei Untertertianer prallten im Eifer des Gefechts aneinander – Becker und Klein. Sie stolperten, fielen hin. Ein Wortwechsel, ein Schubser, Fäuste ballten sich. Beckers Käppchen lag im Matsch, ein Symbol der Erniedrigung, das die Wut anstachelte. Der Kreis der Zuschauer zog sich enger. Die Gesichter neugierig, einige feuerten die Streitenden an, die Stimmung war aufgeheizt. Eine Rauferei lag in der Luft, die Ordnung drohte zu kippen. Herfurth trat hinzu. Seine bloße Anwesenheit sorgte für Ruhe. Die Schüler wichen respektvoll zurück, der Lärm verstummte. Er klärte den Konflikt mit wenigen Sätzen, ruhig, aber bestimmt. Keine Standpauke, keine Drohungen, sondern eine klare Ansage, die Wiederherstellung der Ordnung, die Durchsetzung der Regeln. „Klein, Sie haben Beckers Käppchen beschmutzt. Sie klopfen es sauber. Hier und jetzt.“ Seine Stimme duldete keinen Widerspruch. Klein zögerte einen Moment, sein Stolz kämpfte gegen den Gehorsam, der Trotz stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dann bückte er sich, hob das Käppchen auf und klopfte den Schmutz ab, widerwillig, aber gründlich. „Becker, Sie nehmen die Entschuldigung an. Sie sagen ohne Gehässigkeit: Es ist gut.“ Becker presst die Lippen zusammen, die Wut war noch nicht verraucht, aber er erkannte die Notwendigkeit der Versöhnung. „Es ist gut“, sagte er leise. „Beide geben sich hier und jetzt die Hand. Ein fester Händedruck, meine Herren. Als Zeichen, dass der Streit beigelegt ist. Und beide schreiben heute Abend je zehn Zeilen: Wozu Ordnung gut ist. Sauber und leserlich. Abgabe morgen früh vor der ersten Stunde.“ Die Hände trafen sich zögerlich – und wurden fest. Der Konflikt war gelöst, die Ordnung wiederhergestellt. Nicht durch Strafen allein, sondern durch Wiedergutmachung und Einsicht. Ein kleines Lehrstück im Alltag, das zeigte, wie Konflikte gelöst werden können, ohne die Würde des Einzelnen zu verletzen. Draußen am Brunnen stand Karl und beobachtete die Szene. Er sah, wie sein Vater mit drei Sätzen Ordnung schaffte: kein Donner, nur Richtung. Er war stolz auf seinen Vater, auf seine ruhige Autorität, auf seine Fähigkeit, Konflikte zu lösen, ohne die Stimme zu erheben. Er nahm sich vor, auch so zu werden. Ruhig atmen, ordentlich stehen, sauber schreiben. Haltung bewahren.
Konferenz und Stadtklang
Vor Mittag noch Konferenz. Das Kollegium versammelte sich im Lehrerzimmer, ein hoher Raum im ersten Stock mit schweren Stühlen aus dunklem Holz und dunklen Schränken, in denen Bücher und Akten lagen. An den Wänden Porträts ehemaliger Direktoren, die streng auf die Versammelten herabblickten. Die Luft war leicht stickig, es roch nach kaltem Tabakrauch, Tinte und Papier – ein Geruch von Arbeit und Wissen. Durch das gekippte Fenster strich ein kühler Maiwind; die Afrika-Karten an der Wand flatterten leise. Auf dem Tisch lag gefaltet der „Stadt- und Land-Bote“.
Noch ehe der Direktor den Vorsitz übernahm, hob Lehrer Schäfer den Blick aus der Zeitung. „Hier, London meldet’s groß: Gordon – ein bitteres Ende in Khartum.“ Er schob das Blatt zu Valentin Adolf Herfurth. „Seit der Kongo-Konferenz sind die Blätter voll Karten. Und nun steht Ostafrika unter Schutzbrief. Eine neue Ordnung wird auf dem Papier gezogen, Striche über ganze Länder.“
Herfurth nickte. „Ich nehme es in der Deutschstunde auf – Begriffe sauber klären, damit die Jungen verstehen, was da geschrieben steht.“
Schäfer blätterte weiter. „Und hier vor Ort: das neue Elisabeth-Krankenhaus. Endlich Betten in der Stadt. Das ist eine Tat, die bleibt.“
Aus der Richtung der Bahnhofstraße drang ein kurzer, gedämpfter Pfiff herüber – wie eine ferne Bestätigung, dass die große Welt nun näher an Birkenfeld rückte.
In diesem Moment trat der Direktor, ein Mann von unnahbarer Würde und strengem Regiment, ein und mahnte mit einem Blick zur Pünktlichkeit. Er nahm am Kopfende des Tisches Platz, verlas die Tagesordnung. Prüfungsvorbereitung für die Abiturienten – die Leistungen in Mathematik ließen zu wünschen übrig. Maß bei den Quartalsnoten, die Notwendigkeit von Strenge und Gerechtigkeit in der Beurteilung der Schüler. Die Verteilung der Lehraufträge für das nächste Schuljahr – eine Frage von Kompetenz und Erfahrung. Routineangelegenheiten, die das Gerüst des Schulbetriebs bildeten und für einen reibungslosen Ablauf sorgten.
Dann ein Disziplinarfall, der die Aufmerksamkeit des Kollegiums verlangte: Zwei Sextaner waren beim Käfersammeln im Apothekengarten von Apotheker Gleimann erwischt worden – unerlaubtes Betreten eines fremden Grundstücks, Beschädigung von Eigentum. Ein schweres Vergehen, das geahndet werden musste. Beschluss: Verwarnung durch den Direktor, Nachsitzen am Samstag. Die Ordnung sollte gewahrt bleiben, auch außerhalb der Schule.
Herfurth berichtete anschließend vom freiwilligen Turnunterricht, den er am Nachmittag anbot. Die Beteiligung sei gut, die Disziplin ebenfalls. Er sprach über die Bedeutung der körperlichen Ertüchtigung für Gesundheit und Haltung der Schüler, von der Notwendigkeit eines Ausgleichs zur geistigen Arbeit – Stärkung des Willens. Er betonte die Verbindung von Turnen und Vaterlandsliebe, die Idee des Turnvater Jahn, die noch immer lebendig sei und die Jugend zu pflichtbewussten Bürgern erziehen solle. Der Direktor, sparsam mit Lob, hörte aufmerksam zu; sein Blick ruhte auf Herfurth. „Geist und Körper – eine untrennbare Einheit. Fahren Sie fort, Herr Herfurth. Ihr Engagement ist lobenswert und wichtig für die Schule.“
Während die Konferenz ihren Lauf nahm, trug die Stadt draußen ihren Klang wie ein Chor. Die Geräusche des Vormittags mischten sich zu einer Symphonie des Alltags, die durch die geöffneten Fenster hereinströmte. Bei der Schmiede hell und dunkel gegeneinander, das Hämmern wurde intensiver, je näher der Mittag rückte. Beim Böttcher sprang ein weiterer Reifen – ein kurzes Knacken, dann der Sitz. Beim Lohgerber klatschte eine Haut auf Holz, dumpf und schwer. Von der Bahnhofstraße her wieder ein Pfiff, kürzer diesmal. Und über allem die Kirchturmuhr, die die Zeit in gleiche Abschnitte teilte – Symbol der Ordnung und der Vergänglichkeit. Sie sammelte alles zum Mittagsläuten, ein Ruf zur Einkehr und zur Pause.
Die Konferenz endete. Die Lehrer erhoben sich, Stühle scharrten, das Murmeln der Stimmen löste sich in Flurgeräusche auf. Durch das Fenster sah man Schüler in kleinen Trupps die Straße hinunterziehen. Der Vormittag war vorüber, die Pflicht getan.
DRITTER TEIL: DER MITTAG
Heimkehr und Federarbeit
Mittag: Essen, Atemholen – und Federarbeit. Der Rhythmus des Tages verlangsamte sich für einen Moment, eine kurze Pause vor den Pflichten des Nachmittags. Der Übergang von der Schule zum Haushalt war fließend, die Ordnung des Vormittags setzte sich am Mittagstisch fort. Auf dem Heimweg am Mittag ging Karl zwei Schritte hinter seinem Vater, wie man hinter einem guten Wanderführer geht, der den Weg kennt und die Richtung vorgibt. Die Distanz war ein Zeichen des Respekts, aber auch der Nachahmung. Er versuchte, seinen Schritt dem seines Vaters anzupassen, die gleiche Haltung einzunehmen. „Was hast du behalten?“, fragte Herfurth, ohne sich umzudrehen, ohne Strenge in der Stimme, nur um zu prüfen, ob die Lektionen des Vormittags gefruchtet hatten. Karl überlegte kurz. Er dachte an die Lateinstunde, an die Struktur der Sprache, die Logik der Grammatik. „Dass ein Satz auch dann hält, wenn man ihn umdreht“, sagte er, die Worte des Lehrers im Kopf. Der Vater nickte – ein knappes, zufriedenes Nicken. „Gut. Dann hältst du auch, wenn dich einer umdreht.“ Eine Verbindung zwischen Grammatik und Charakter, zwischen äußerer Form und innerer Haltung. Eine Lektion fürs Leben, die zeigte, dass die Prinzipien der Ordnung universell gültig waren. In der Bahnhofstraße empfing ihn die Ofenwärme, die sich im Haus ausgebreitet hatte, eine wohlige Umarmung nach der Kühle des Morgens. Es roch nach Kartoffelsuppe, ein einfacher, ehrlicher Geruch, der von Heimat und Geborgenheit erzählte. Möhre und Lauch gaben der Suppe Farbe und Vitamine, ein Stück Speck sorgte für den Geschmack und die nötige Energie.
Dazu Roggenbrot, frisch vom Bäcker, die Kruste knusprig, das Innere weich. Zu Hause legte Karl die Tafel sorgfältig neben den Teller, damit die Suppe nicht spritzte. Die Ordnung der Schule setzte sich am Mittagstisch fort, die kleinen Dinge zählten. Nach dem Tischgebet, das die Familie wieder zusammenführte und den Dank für die Gaben der Natur ausdrückte, kreuzten sich die Sätze in vertrauten Bahnen. Der Vormittag wurde besprochen, die kleinen Ereignisse des Tages ausgetauscht, die das Leben ausmachten. Mathilde berichtete von einem Besuch bei Frau Keller, der Nachbarin. Sie habe um einen Blick auf den Ellenbogen ihres Großen gebeten, der beim Spielen gestürzt war. Eine kleine Verletzung, die versorgt werden musste. „Nach dem Kirchplatz“, sagte Herfurth nur, eine Anspielung auf das Fußballspiel, das am Morgen Thema war. Er ahnte, dass die ungeordnete Bewegung ihren Tribut gefordert hatte, eine Bestätigung seiner Ansichten über das wilde Spiel. Karl berichtete von seinem ersten Tag in der Sexta, von der Strenge des Lehrers, von den neuen Vokabeln. Er sprach leise, aber seine Augen verrieten seinen Stolz. Er wollte nach dem Essen zum Brunnen, Wasser holen für die Küche, eine Aufgabe, die er gerne übernahm. Elise sollte mitkommen, um ihm zu helfen, gemeinsam ging es leichter. Maria kündigte stolz an, sie könne „La-lu-le“ lesen, die ersten Silben, die sie gelernt hatte.
Ein Meilenstein in der Entwicklung des Kindes. „Eine Zeile, bevor du schläfst“, versprach der Vater, ein kleines Ritual, das die Liebe zum Lesen wecken und die Bindung zwischen Vater und Tochter stärken sollte. Nach dem Essen begann die Arbeit im Haushalt, die Routine des Aufräumens und Saubermachens. Mathilde spülte mit Lina in der Zinkschüssel in der Küche. Das Wasser stand im Eimer vom Brunnen, es musste sparsam verwendet werden. Das Geschirr klapperte leise, die Hände arbeiteten flink und geschickt. Karl trug die Teller nach, Elise stellte die Tassen in den Schrank. Jede Hand fand ihre Aufgabe, jeder trug zum Gelingen des Ganzen bei, eine Gemeinschaft im Kleinen. Herfurth saß am Fenster in der Stube, vor ihm ein Stapel Hefte. Korrekturen. Die Arbeit des Lehrers endete nicht mit dem Mittagsläuten. Er tauchte die Feder in das Tintenfass, setzte Randkommentare in roter Tinte. Seine Schrift war präzise, seine Urteile gerecht, aber streng. Ein Fehler im Satzbau, eine ungenaue Übersetzung, ein Lob für eine klare Argumentation. Draußen riefen Kinder, ein Karren ratterte über das Kopfsteinpflaster, der Duft der Obstblüte kriech durch die Fugen des Fensters. Die Welt draußen und die Welt drinnen, getrennt und doch verbunden. Die Konzentration auf die Arbeit war eine Form der Meditation, eine Vertiefung in die Ordnung des Geistes.
Das Reich der Kinder
Während Valentin Adolf am Fenstertisch in die Korrekturen versunken war und das leise Rascheln seiner Feder über das Papier den Takt vorgab, entfaltete sich in der Stube das Reich der Kinder. Der Mittagsschlaf war für die Älteren längst kein Thema mehr, sie beschäftigten sich leise, um den Vater nicht zu stören, aber ihre Fantasie kannte keine Grenzen. Maria Mathilde (4) hatte auf dem Dielenboden eine kleine Welt errichtet, ihre eigene kleine Ordnung. Aus sechs einfachen Bauklötzen, die schon viele Kinderhände gesehen hatten und deren Kanten abgerundet waren vom vielen Spielen, und einem abgenutzten Taschentuch als Dach entstand ein Puppenhaus. Ihre einzige Bewohnerin, eine aus Stoffresten genähte Puppe namens Lotte, die sie von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte, wurde sanft hineingelegt. „So, Lotte“, flüsterte Maria, ihre Stimme voller Zärtlichkeit und Fürsorge.
„Nun ruh dich aus. Du bist krank und musst gesund werden.“ Sie spielte nach, was sie am Morgen an der Pumpe beobachtet hatte, die Gespräche der Frauen, die sich dort trafen, um Wasser zu holen und Neuigkeiten auszutauschen, die Sorgen um die Gesundheit, die Krankheiten, die im Umlauf waren. „Guten Tag, Frau Nachbarin“, sagte sie mit verstellter Stimme zu ihrer Puppe, sie ahmte den Tonfall der Erwachsenen nach, die Gesten, die Mimik. „Ist das Wasser heute gut? Ja, sehr gut! Aber mein Kind hat Fieber. Ich muss zum Doktor Flick.“ Ein kleines Theaterstück im Alltag, das die Welt der Großen im Kleinen spiegelte und dem Kind half, die sozialen Regeln zu verstehen und die Ereignisse des Tages zu verarbeiten. Neben ihr auf einem kleinen Schemel saß Elise Amalie (6) und buchstabierte mühsam in ihrer Fibel. Die Lippen bewegten sich lautlos mit, die Stirn lag in Falten vor Konzentration. Sie war ehrgeizig, sie wollte lesen lernen, so wie Karl, um die Geschichten selbst zu entdecken, die in den Büchern verborgen waren. Sie versuchte, die Buchstaben zu Worten zusammenzufügen, eine schwierige Aufgabe, die Geduld und Ausdauer erforderte.
Doch ihre Konzentration wurde immer wieder durch Marias leises Spiel unterbrochen. Ein Bauklotz, den Elise achtlos neben sich als Stütze für ihr Buch gestellt hatte, wurde plötzlich zum Ziel von Marias architektonischem Ehrgeiz. Sie brauchte ihn für den Anbau ihres Puppenhauses, für das Krankenzimmer von Lotte, das noch nicht fertig war. Ein kurzer, ungeduldiger Griff – und das Unglück geschah. Nicht nur der Buchstützen-Klotz wurde entwendet, die ganze wackelige Konstruktion stürzt mit einem leisen Poltern in sich zusammen. Lotte wurde unter den Trümmern begraben, das Taschentuch rutschte vom Dach. Marias Gesicht verzerrt sich zum aufkeimenden Weinen, die Unterlippe zitterte, ein erster lauter Schluchzer entwich ihrer Brust. Elises gerötete Wangen verrieten ihre Empörung über die Störung und die Zerstörung ihres Eigentums. „Das war meins! Du dummes Ding! Und du hast Lottes Haus kaputt gemacht!“
Die stille Kunst der Führung
Noch bevor der Streit lauter werden konnte, bevor Tränen flossen und Worte fielen, die nicht zurückgenommen werden konnten, trat Mathilde aus der Küche. Sie hatte gerade mit Lina die letzte Zinnschüssel abgetrocknet, ihre Hände waren noch feucht vom Spülwasser. Ihr Blick erfasste die Szene sofort, die umgestürzten Bauklötze, die weinende Maria, die empörte Elise. Sie kniete sich nicht theatralisch nieder, sie machte kein großes Drama aus dem Vorfall. Sie stellte sich einfach zwischen die beiden Mädchen, ihre bloße Anwesenheit dämpfte die aufwallenden Gefühle. Ihre Ruhe übertrug sich auf die Kinder, ihre Autorität war unangefochten, eine stille Kraft, die die Ordnung wiederherstellte. „Maria“, sagte sie ruhig, aber bestimmt. Ihre Stimme war leise, aber sie duldete keinen Widerspruch. Sie forderte eine Antwort, eine Reflexion über das eigene Verhalten.
„Was ist die Regel im Haus?“ Maria blickte auf ihre Schuhspitzen, sie wusste genau, was sie falsch gemacht hatte, die Scham stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie murmelt leise, kaum hörbar: „Erst fragen, dann nehmen.“ „Und Elise“, fuhr Mathilde fort, ihr Blick wandte sich der Älteren zu, von der sie mehr Verständnis und Selbstbeherrschung erwartete. „Was tut eine große Schwester, wenn die kleine einen Fehler macht? Schimpfen oder helfen?“ Elises Zögern schmolz unter dem sanften, aber fordernden Blick der Mutter. Sie wusste, was von ihr erwartet wurde, welche Rolle sie als große Schwester spielen sollte. „Helfen“, antwortete sie leise, ihre Empörung wich der Einsicht. Mathilde nickte. Sie nahm keinen der Streitgegenstände an sich, sie entschied nicht, wer im Recht war und wer im Unrecht. Sie löste den Konflikt nicht durch ein Urteil, sondern durch eine Anleitung zur Selbsthilfe. Sie führte Marias kleine Hand, um den ersten Stein für das Puppenhaus neu zu setzen. Dann schob sie den zweiten Klotz in Elises Richtung, eine stumme Aufforderung zur Mitarbeit und Versöhnung. Gemeinsam errichten die drei das kleine Haus neu, diesmal stabiler als zuvor. Die Bauklötze wurden sorgfältig aufeinandergesetzt, das Taschentuch wurde glattgestrichen. Zum Schluss legte Elise die Puppe Lotte vorsichtig wieder hinein. Der Frieden war wiederhergestellt, nicht durch Zwang, sondern durch Kooperation und gegenseitiges Verständnis.
Kaum war der Frieden wiederhergestellt, wurde er erneut auf die Probe gestellt. Der kleine Adolf (2), der bisher zufrieden mit einem hölzernen Kreisel gespielt hatte, der leise surrend über den Dielenboden tanzte, hatte nun ein neues Ziel entdeckt. Den kleinen, geschnitzten Holzvogel, den Maria eben noch neben Lottes Haus platziert hatte, ein Geschenk des Großvaters, das sie sehr liebte. Mit der ganzen Entschlossenheit eines Zweijährigen griff er danach, seine kleine Hand schloss sich fest um den Vogel. Maria protestierte sofort mit einem lauten „Nein! Meins!“ Adolf hielt den Vogel nur fester und presst die Lippen zusammen. Sein Gesichtsausdruck war starrköpfig, er war nicht bereit, seine Beute herzugeben. Ein kleiner, stummer Willenskampf entbrennt zwischen den Geschwistern, ein Kampf um Besitz und Autonomie, der die Grenzen des Zusammenlebens auslotete. Mathilde, die das Geschehen aus dem Augenwinkel beobachtete, trat hinzu. Sie wusste, dass Strenge hier wenig ausrichten würde. Sie versuchte nicht, Adolf den Vogel mit Gewalt zu entreißen, das würde nur zu Geschrei und Tränen führen. Stattdessen griff sie zu einer List, einer klugen Ablenkung. Sie nahm den bunten Kreisel, zog an der Schnur und ließ ihn direkt vor Adolfs Füßen tanzen. Für einen Moment war der Junge abgelenkt, sein Blick folgte fasziniert dem surrenden Holz, die Farben verschwimmen vor seinen Augen zu einem bunten Muster. In diesem Augenblick der Unachtsamkeit nahm Mathilde ihm sanft den Vogel aus der Hand und gab ihn Maria zurück. Zu Adolf sagte sie nur: „Sieh nur, wie er tanzt. So schön.“ Der kleine Eigensinn war für den Moment gebrochen, nicht durch Strenge, sondern durch eine kluge Ablenkung. Eine kleine Lektion in Diplomatie im Alltag, die zeigte, dass man mit Klugheit oft mehr erreicht als mit Gewalt.
Valentin Adolf hob kurz den Blick von seinen Heften, ein kaum merkliches Nicken huschte über sein Gesicht. Er hatte das Geschehen beobachtet, die kleinen Konflikte und ihre Lösungen. Das leise Gemurmel der spielenden Kinder und Mathildes ruhige Stimme waren kein Störgeräusch für ihn. Sie waren der Grundton, auf dem seine eigene Ordnung – die der Schule, des Vereins, der Noten – erst sicher stehen konnte. Es war die Ordnung im Kleinen, die die Ordnung im Großen ermöglichte. Er wendet sich Elise zu, die wieder über ihrer Fibel brütete, ihr Ehrgeiz war geweckt. „Was liest du denn, mein Kind?“, fragte er sanft. Elise zeigte mit dem Finger auf eine Zeile, ihre Augen folgten den Buchstaben, sie suchte nach dem Sinn. „Va-ter“, buchstabierte sie langsam und blickte ihn fragend an. „Und das hier?“ Sie deutet auf das nächste Wort. „‚bringt‘“, half er ihr leise. „Vater bringt Brot.“ Elise wiederholte den Satz stolz und lächelte. Es war eine andere Welt als die des lateinischen Satzbaus, die Welt der einfachen Worte und der klaren Bedeutungen. Aber Herfurth wusste, dass auch sie ihre eigene, unverzichtbare Ordnung hatte, die Grundlage für alles Weitere. Er beugte sich wieder über ein lateinisches Partizip, während im Zimmer nun drei Kinder wieder friedlich spielten.
Die Ordnung des Haushalts
Im Haushalt der Familie Herfurth galt die bürgerliche Ordnung, die nicht nur den Umgang miteinander, sondern auch den Umgang mit den Dingen bestimmte. Sparsamkeit war eine Tugend, Verschwendung eine Sünde. Es war ein Prinzip, das tief in der protestantischen Ethik verwurzelt war und das den Lebensstil der Zeit prägte. Holz und Kohle wurden über die Woche bemessen, sorgfältig eingeteilt, nicht aus Not, sondern aus Gewohnheit, aus dem Bewusstsein, dass die Ressourcen begrenzt waren. Der Vorrat im Schuppen musste bis zum Ende des Winters reichen, jeder Scheit Holz wurde mit Bedacht verwendet. Butter wurde ordentlich gestrichen, nicht zu dick. Der Speck in der Suppe gab Geschmack, Fleisch gab es nur am Sonntag, ein Luxus, den man sich bewusst gönnte. Die Mahlzeiten waren einfach, aber nahrhaft, geprägt von den Produkten der Region und der Saison. Im kühlen, dunklen Keller lagerten die Vorräte für den Winter, sorgfältig geordnet und gepflegt. Kartoffeln in der großen Holzkiste, der erdige Geruch füllte den Raum. Apfelkisten an der Wand, die Früchte sorgfältig ausgewählt und gelagert, so dass sie bis ins Frühjahr hielten. Ein paar Gläser Eingemachtes im Regal, das Obst und Gemüse des Sommers konserviert für die kalte Jahreszeit – Pflaumenmus, saure Gurken, Birnenkompott –, das Mathilde im Sommer zubereitet hatte. Die Familie Herfurth war nicht reich, aber sie lebte in gesicherten Verhältnissen. Das Gehalt des Gymnasiallehrers reichte aus, um die Familie zu ernähren und den bürgerlichen Standard zu halten, der mit seinem Beruf verbunden war. Der Suppenverein, der bedürftige Kranke und Arme versorgte, war für die, die es wirklich brauchten – die Tagelöhner, die Witwen, die Alten, deren Rente nicht reichte, um satt zu werden. Die Familie Herfurth gehörte nicht dazu. Hier half man eher mit einem Korb Lebensmittel, wenn Frau Pfarrer rief und um Unterstützung für eine Familie bat, die in Not geraten war. Ein Beitrag zur Gemeinschaft, eine christliche Pflicht, die man still und ohne Aufhebens erfüllte.
Die Schöpfkelle
Im Pfarrhaus, nur wenige Straßen entfernt, fand zur gleichen Zeit eine andere Form der Versorgung statt. Die Ausgabe des Suppenvereins um die Mittagsstunde. Ein Akt der Barmherzigkeit, der die Not in der Stadt linderte, aber auch die sozialen Unterschiede sichtbar machte. Im Flur des Pfarrhauses roch es nach Brühe und nassem Holz. Der Geruch von gekochtem Gemüse – Kohl, Rüben, Kartoffeln – mischte sich mit dem Geruch der Armut, der in den Kleidern der Wartenden hing, ein Geruch von feuchten Wohnungen und mangelnder Hygiene. Ein großer Kessel dampfte auf einem kleinen Ofen, der Geruch von Fleischbrühe erfüllte den Raum. Zwei Frauen aus der Gemeinde, ehrenamtliche Helferinnen in dunklen Kleidern und weißen Schürzen, schöpften die Suppe in die mitgebrachten Gefäße. Ihre Gesichter waren ernst, aber freundlich, ihre Bewegungen routiniert. Schwester Therese, die Diakonisse, die auch im Krankenhaus arbeitete, saß an einem kleinen Tisch und notierte Namen in ein Heft. Die Bedürftigen wurden registriert, ihre Not wurde verwaltet, die Barmherzigkeit hatte ihre Ordnung. „Für Frau Wagner – und für den Jungen.“ Eine alte Frau, gebeugt vom Leben, hielt ihr einen Henkeltopf hin. Der Henkel war mit Draht geflickt; der Deckel passte nicht richtig, aber er hielt die Wärme der Suppe. „Jeden Tag eine Schöpfkelle voll“, sagte die Bürgermeisterin, die ebenfalls mithalf, ein Zeichen ihres Engagements für die Stadt, eine Demonstration von sozialer Verantwortung. „Und wenn’s knapp wird, teilen wir feiner.“ Eine einfache Regel, die sicherstellte, dass jeder etwas bekam, auch wenn die Mittel begrenzt waren. Ein alter Mann, ein Tagelöhner, der im Winter keine Arbeit gefunden hatte, stellte seinen Hut ab. Er stand einen Moment zu aufrecht, die Haltung eines Mannes, der sich schämte, Hilfe anzunehmen, der seinen Stolz bewahren wollte, auch wenn der Hunger ihn plagte. Dann nahm er die Kelle Suppe an wie einen Gruß, dankbar und wortlos. Niemand redete viel. Die Atmosphäre war gedämpft, geprägt von der Scham der Empfangenden und der stillen Pflichterfüllung der Gebenden. Ein Kind zählte die Semmeln im Korb, die es zur Suppe dazu gab, ein Luxus, den sich viele nicht leisten konnten. Die Mutter legte eine zurück – „für später“. Ein Akt der Vorsorge, der Planung im Kleinen, der zeigte, dass auch in der Armut die Ordnung des Haushalts gewahrt blieb. Draußen läutet die halbe Stunde. Die Ausgabe war beendet, die Kessel waren leer. Man wusste, dass es nicht die Welt war, was hier geschah – eine Schöpfkelle Suppe rettete kein Leben, änderte nicht die Verhältnisse. Aber heute reichte es bis zum Abend. Ein kleiner Trost in einer harten Zeit, ein Zeichen der Hoffnung, dass man nicht vergessen war.
VIERTER TEIL: DER NACHMITTAG
Botengänge und Musikalien
Der Nachmittag begann mit Bewegung. Die Ruhe der Mittagsstunde wich der Geschäftigkeit des Nachmittags, die Pflichten riefen, die Ordnung des Tages setzte sich fort. Später am Nachmittag hatte Karl eine Aufgabe. Eigens beauftragt von Großvater Gleimann, trug er eine leere Holzkiste zur Apotheke zurück. Die Kiste war leicht, aber sperrig. Er ging durch die Straßen der Stadt, die nun im milden Licht der Nachmittagssonne lagen. Die Schatten wurden länger, die Farben intensiver. Auf dem Kirchplatz kam er in Versuchung, die Kiste über das Kopfsteinpflaster zu rollen. Das Geräusch wäre verlockend laut gewesen, ein Echo zwischen den alten Mauern der Kirche und der umliegenden Häuser. Aber dann besann er sich auf die Worte seines Vaters. Ordnung lärmt nicht. Rücksichtnahme war ein Gebot der Höflichkeit. Er trug die Kiste, die Arme weit ausgebreitet, die Haltung gerade, eine kleine Übung in Selbstdisziplin. Vor der Offizin der Apotheke hielt er kurz an. Durch die große Scheibe, in der sich die gegenüberliegenden Häuser spiegelten, sah er den Großvater am Arbeitstisch sitzen. Er richtete Etiketten, klebte sie auf kleine braune Flaschen. Die Bewegungen waren langsam und präzise, jede Handbewegung saß. Dieselbe Ruhe wie beim Latein, dachte Karl, nur mit Leim statt mit Tinte. Er trat ein, übergab die Kiste, richtete die Grüße der Mutter aus. Der Großvater nickte zufrieden, ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Währenddessen klopfte es an der Tür des Hauses in der Bahnhofstraße. Die Moderne klopfte an: Rollen, Karten, frische Federn. Die Verbindung zur Außenwelt riss nicht ab. Der Postbote stand in der Tür, Mütze in der Hand, eine Rolle unterm Arm. Seine Uniform saß korrekt, seine Haltung war dienstbeflissen. „Vom Agenten am Bahnhof, Herr Lehrer – Musikalien aus Mainz, wie es scheint.“ Er überreichte Herfurth das Paket, dazu ein schmaler Zettel, sauber lithographiert. Die Rechnung des Musikverlags. Herfurth löste die Kordel, rollte die Noten über dem Tisch in der Stube auf. Frisch gedruckt, der Geruch von Druckerschwärze stieg ihm in die Nase, ein Geruch von Kunst und Kultur. Einfache Choralbearbeitungen, klare Männerchorsätze – Material für den Liederkranz, den Chor, den er leitete. Eine willkommene Ergänzung seines Repertoires. Und, welch Trost der Moderne, zwei frische Stahlfedern in einem kleinen Pappschächtelchen, für seine Korrekturen, die das Schreiben erleichterten und die Schrift sauberer machten. „Die Bahn bringt’s“, sagte der Bote mit einem gewissen Stolz. Er war ein Teil dieses Fortschritts, ein Bote der neuen Zeit. „Und schneller, als man schreiben kann.“ Er lachte kurz über seinen eigenen Witz und verabschiedete sich mit einem kurzen Gruß. Wenig später kamen vom Schulamt zwei gerollte Wandkarten, sauber in Packleinwand eingenäht, mit Stempel von fernher. Eine Karte von Europa, eine von Deutschland, das neue Reich, das vor kaum fünfzehn Jahren gegründet worden war. Das Wissen der Welt kam per Bahn nach Birkenfeld, in Form von Büchern, Karten und Noten. Die Wege waren kürzer geworden; man merkte es an vielen Ecken, im privaten wie im beruflichen Leben. Als die evangelische Kirche zur halben Stunde schlug, notierte Herfurth im Kopf noch einen Termin. Am Sonntag sollte der Liederkranz – sein Männerchor, den er seit 1883 dirigierte – nach dem Gottesdienst im Pfarrsaal eine kurze Probe halten. Für das Maifest war ein Auftritt vor der Kirche geplant, ein schlichter Choral mit anschließender Strophe im vierstimmigen Satz. Die Musik als Ausdruck der Gemeinschaft, als klingende Ordnung, die die Herzen der Menschen erreichte.
Handel und Wandel
Unterdessen hatte Mathilde das Kopftuch gebunden, ein Zeichen, dass sie das Haus verließ für die täglichen Besorgungen. Elise und Maria an den Händen, Lina schob den Handwagen, in dem der kleine Christoph saß und vergnügt die Welt betrachtete. Der Nachmittag war die Zeit der Wege durch die Stadt, der Begegnungen und Gespräche, der Pflege der sozialen Kontakte. Ihr Weg führte sie durch die geschäftigen Straßen der Stadt, die nun von Menschen belebt waren, die ihre Einkäufe erledigten oder auf dem Weg zur Arbeit waren. Beim Bäcker am Kirchplatz ein kurzer Gruß. Sie kaufte Roggenwecken für das Abendessen und Zwieback für Christoph, der auf die Zähne kam und etwas zum Kauen brauchte. Zwei Sätze mit dem Bäckermeister darüber, wie die Bahn die Mehlfrage verändert hatte. Der Meister sagte, der Händler aus der Stadt liefere nun verlässlicher und nicht mehr wetterlaunig. Die Qualität des Mehls sei besser geworden, die Preise stabiler. Der Fortschritt hatte auch seine guten Seiten, auch wenn er die Welt veränderte und die alten Gewissheiten ins Wanken brachte. Beim Kolonialwarenhändler in der Hauptstraße kaufte sie Salz, Stückzucker, Zichorie für den Kaffee. Die Frage, ob das Gauturnen, das große Sportereignis der Region, wohl nach Birkenfeld komme, stand im Raum, ein Thema, das die Gemüter bewegt und die Hoffnungen auf wirtschaftlichen Aufschwung weckte. „Noch offen“, sagte Mathilde. Die Entscheidung lag beim Verband, aber die Stadt hatte sich beworben und hoffte auf den Zuschlag. Auf dem Rückweg am Kirchplatz traf sie eine Nachbarin mit der Milchkanne, die auf dem Weg zum Bauernhof war, um frische Milch zu holen. Drei Sätze über den Morgenzug, der pünktlich angekommen war. Zwei Kisten Tuchballen seien gekommen, für den Schneider in der Hauptstraße, der die Uniformen für die Turnerfeuerwehr nähte. Und eine Dame sei ausgestiegen, deren Hut man sich merken werde – ein extravagantes Modell aus Paris, ein Hauch von Eleganz aus der großen Stadt, der für Gesprächsstoff sorgte und die Fantasie beflügelte. An der Pumpe auf dem Hof half ein Bursche Mathilde beim Füllen des Eimers, der schwer gefüllt war mit Wasser. Elise sagte „Danke“, klar und deutlich. Solche Höflichkeiten waren keine Kleinigkeit. Sie waren der Kitt, der die Gemeinschaft zusammenhielt und das Leben angenehmer machte.
In der Offizin
Der Besuch in der Apotheke ihres Vaters, der Apotheke Gleimann (später „Hirsch-Apotheke“), war mehr als nur ein Einkauf. Es war eine Begegnung mit der Welt der Heilkunst, ein Ort der Präzision und der Sorgfalt. In der Offizin in der Hauptstraße roch es intensiv nach Lavendel, Seife, Spiritus und getrockneten Kräutern. Ein Geruch, den Mathilde seit ihrer Kindheit kannte, ein Geruch von Sauberkeit und Heilung, der Vertrauen schaffte und Respekt einflößte. Auf der Arbeitsplatte standen Mörser aus Porphyr und aus Steinzeug, in denen Kräuter und Salze zerstoßen und gemischt wurden, eine Arbeit, die Kraft und Geduld erforderte. Auf dem Tisch eine geeichte Balkenwaage, die das Gewicht der Arzneien präzise misst, auf das Milligramm genau. Die Gewichte aus Messing glänzten im Licht, poliert und gepflegt. Kleine braune Gläser standen in Reih und Glied in den Regalen, daneben ein Stapel Gummistopfen in verschiedenen Größen. Die Etiketten – sauber vorgeschnitten – wurden mit Leim bestrichen und im richtigen Winkel auf die Flaschen geklebt, dass man sie im Fach gleich lesen konnte. Die Handschrift des Apothekers war klar und deutlich, ohne Schnörkel. Ordnung war hier oberstes Gebot, denn ein Fehler konnte fatale Folgen haben, ein vertauschtes Etikett konnte Leben kosten. In der Offizin führte Gleimann, Mathildes Vater, ein schmales Journal, ein dickes Buch, in dem jeder Vorgang verzeichnet war: Datum, Bezug der Arznei, Preis, ein Strich beim Ausgeben – mehr brauchte es nicht, wenn die Hand ruhig war und der Geist klar. „Vater.“ – „Mathilde.“ Die Begrüßung war kurz, aber herzlich, eine Vertrautheit, die keiner Worte bedurfte. „Die Kinder?“ – „Bei Lina vor der Tür. Sie schauen sich die Auslage im Schaufenster an.“ Sie warteten geduldig, wussten, dass die Apotheke kein Spielplatz war, sondern ein Ort der Ernsthaftigkeit. Mathilde besprach die Bestellungen. Eine Einreibung für Kellers Jungen, der sich den Ellenbogen verletzt hatte, eine Salbe gegen die Schmerzen und Schwellungen. Neue Etiketten, die benötigt wurden, um die Vorräte aufzufüllen. Ein Tropfen Liebfrauenmilch für den Sonntag, ein kleiner Luxus für den Feiertag, der die Stimmung hob. Für das Elisabeth-Krankenhaus lag ein Bestellzettel bereit, von Dr. Flick unterschrieben. Die Bedürfnisse des neuen Krankenhauses waren groß, die Anforderungen an die Apotheke stiegen stetig. Carbolsäure zur Desinfektion der Instrumente und der Wunden, Liq. Ammon. caust. (Salmiakgeist) in kleiner Menge zur Belebung bei Schwächeanfällen, Gaze für Verbände, Zunder zum Anzünden des Spirituskochers im Labor, zwei Dutzend Glasröhrchen für Proben und Untersuchungen. Gleimann setzte mit ruhiger Hand seine Anmerkungen darunter, prüfte die Dosierung, notierte den Preis. Er stellte die Waren zusammen, sorgfältig verpackt und beschriftet. Er sagte, er wolle die Kiste heute noch persönlich hintragen, um sicherzustellen, dass alles richtig ankommt und um mit Dr. Flick über die neuesten Entwicklungen in der Medizin zu sprechen, den Austausch unter Fachleuten zu pflegen. An der Schwelle kreuzte Mathilde eine junge Schwester in der Tracht der Diakonissen – graues Tuch, schlichte Haube. Sie trug ein Bündel Leinen, frisch gewaschen und gemangelt, das im Krankenhaus gebraucht wurde. Ihr Gesicht war ernst, aber freundlich, geprägt von der Verantwortung, die sie trug. „Es wird gebraucht, gnädige Frau“, sagte sie leise, ihre Stimme war sanft, aber bestimmt. „Es wird gleich gebraucht.“ Die Arbeit im Krankenhaus kannte keine Pause, die Hilfe wurde rund um die Uhr benötigt.
Im Reich der Essenzen
Karl hatte die leere Kiste abgestellt und wollte sich gerade wieder auf den Weg machen, als die Stimme seines Großvaters ihn zurückhielt. „Warte, Karl August. Komm einen Moment hinter den Tresen.“ Für einen Jungen war dies eine seltene Ehre. Die Offizin war der öffentliche Teil der Apotheke, aber das Labor dahinter war das Reich des Apothekers Gleimann, ein Ort der Geheimnisse und der Präzision. Karl trat mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Neugier durch die schmale Tür. Die Luft hier war noch dichter, schärfer. Es roch nach Alkohol, nach Kampfer und nach unzähligen getrockneten Kräutern, deren Düfte aus den dunklen Holzschubladen mit ihren weißen Porzellanschildern zu strömen schienen: Radix valerianae, Flores chamomillae, Herba menthae piperitae. An der Wand stand ein hohes Regal mit hunderten von Glasflaschen und Steinguttöpfen in Reih und Glied – eine Armee der Heilung, perfekt geordnet. Apotheker Gleimann trug einen langen grauen Kittel. Seine Hände, obwohl von Alter und Arbeit gezeichnet, bewegten sich mit der ruhigen Sicherheit eines Handwerkers. Er zerrieb gerade in einem schweren Porphyrmörser getrocknete Weidenrinde zu feinem Pulver. Das rhythmische, kratzende Geräusch des Stößels erfüllte den Raum. „Siehst du, Junge?“, sagte er, ohne aufzusehen. „Ordnung ist hier nicht nur Zierde. Sie ist eine Notwendigkeit. Ein falsches Pulver, ein falsches Gewicht – und aus Heilung wird Gift.“ Er deutete mit dem Kinn auf die messingglänzende Balkenwaage, die auf einem makellos sauberen Marmorblock stand. Daneben lagen winzige Gewichte in einem samtausgelegten Holzkästchen. „Jedes Gramm zählt. Jedes Körnchen.“ Er gab Karl eine kleine Aufgabe. „Hier. Nimm diese Etiketten. Streiche den Leim dünn und gleichmäßig auf die Rückseite und klebe sie genau mittig auf diese Gläschen. Nicht schief. Der Name der Arznei muss immer gut lesbar sein.“ Karl nahm den Pinsel und den Leimtopf. Seine Finger, sonst eher ungestüm, wurden langsam und vorsichtig. Er konzentrierte sich, strich den Leim auf, nahm ein Glas und zielte. Das Etikett für „Tinctura Opii“ musste perfekt sitzen. Es war eine Arbeit, die Geduld erforderte, eine stille Lektion in Sorgfalt, die mehr wert war als viele Worte. Während sie arbeiteten, sprach der Großvater weiter, seine Stimme leise und bedächtig. „Der junge Dr. Flick im Krankenhaus ist ein fähiger Mann. Er spricht von Carbolsäure und Desinfektion, von Dingen, die wir aus Büchern lernen, die mit der Bahn aus den großen Städten kommen. Das ist gut. Das ist der Fortschritt.“ Er hielt inne und klopfte das Pulver aus dem Mörser in eine Papiertüte. „Aber der Fortschritt darf die Erfahrung nicht vergessen machen. Diese Weidenrinde hier“, er hielt die Tüte hoch, „hilft seit Jahrhunderten gegen Fieber. Man muss wissen, wann man sie erntet, wie man sie trocknet. Das steht nicht in jedem neuen Buch.“ Es war eine andere Art von Wissen als die, die sein Vater im Gymnasium lehrte. Es war ein Wissen der Hände, der Natur, der Überlieferung. „Dein Vater“, sagte der Großvater, als könnte er Karls Gedanken lesen, „ordnet die Welt mit Worten und Zahlen. Ich ordne sie mit Kräutern und Essenzen. Beides ist nötig, damit das Leben im Gleichgewicht bleibt.“ Er lächelte kurz. „So, die Etiketten sind gerade. Gute Arbeit. Nun lauf, bevor die Mutter sich sorgt.“ Karl verließ die Apotheke mit einem neuen Gefühl. Er hatte einen Blick in eine andere Welt der Ordnung getan, eine, die anders roch und sich anders anfühlte als die Schule, aber denselben Respekt vor dem Detail verlangte.
Im Kolonialwarenladen
Der Besuch im Kolonialwarenladen war ein Erlebnis für die Sinne, eine Reise in ferne Länder, ein Hauch von Exotik im Alltag. Die Glocke an der Tür schnarrte leise, als Mathilde eintrat. Der Raum war dunkel, vollgestopft mit Waren aus aller Herren Länder, die Regale reichten bis zur Decke. Hinter dem Tresen standen große Säcke, gefüllt mit Zucker aus Kuba, Salz aus den Salinen der Region, Reis aus Italien, Kaffee aus Brasilien. Es roch nach Gewürzen, nach Zimt und Nelken, nach Muskatnuss und Pfeffer, nach getrocknetem Fisch und Seife, eine Mischung aus Düften, die die Fantasie beflügelte. Der Händler, ein älterer Mann mit Nickelbrille und weißer Schürze, der über sein kleines Reich herrschte, stand hinter dem Tresen. Sein Blick war prüfend, seine Bewegungen waren gemessen. Er schob das Schieberlineal auf der großen Waage, wog die gewünschten Waren ab, präzise und korrekt. Er brach Stückzucker mit der Zange von einem großen Zuckerhut ab, ein knirschendes Geräusch, das die Stille durchbrach, und wickelte ihn in charakteristisches blaues Papier. „Aufschreiben?“ Die Frage war Routine, ein Zeichen des Vertrauens zwischen Händler und Kunden. Wie immer bis Zahltag, wenn das Gehalt des Lehrers ausgezahlt wurde. Die meisten Kunden kauften auf Kredit, bezahlten, wenn sie Geld hatten. Er zog das große Heft heran, das Kontobuch, in dem die Schulden der Kunden notiert waren, die sogenannte Kladde. Die Tinte glänzte dunkel auf dem Papier, ein sauberer Strich beim Namen Herfurth, die Summe daneben. Die Schulden wurden notiert, aber sie belasteten nicht das Verhältnis, solange sie pünktlich beglichen wurden. Elise legte die Münze für den Zichorienkaffee hin, den sie bar bezahlten. So ordentlich, als legte sie eine Perle auf den Tresen. Ein kleines Geschäft, das sie selbst abwickeln durfte, eine Übung in Selbstständigkeit und Verantwortung. „Danke“, sagte sie höflich, ihre Stimme war klar und deutlich. Der Händler nickte, ohne groß zu lächeln – Höflichkeit war hier mehr Haltung als Miene. Ein Geschäftsmann, der seine Kunden kannte, aber keine Vertraulichkeiten austauschte. Draußen rumpelte ein Karren vorbei, beladen mit Holz aus dem Wald, das zum Sägewerk gebracht wurde. Das Geräusch hallte durch den Raum. Und irgendwo rief einer nach dem Böttcher, ein Fass musste repariert werden. Die Geräusche der Stadt drangen herein, eine Erinnerung an die Welt draußen. Die Türglocke schnarrte noch einmal, als Mathilde den Laden verließ. Im Heft stand nun eine Zahl, die nur so groß war, wie sie sein musste. Die Ordnung der Finanzen war gewahrt.
Der Vaterländische Frauenverein
Am späteren Nachmittag – während Herfurth bereits zur Turnhalle ging, um die Übungsstunde vorzubereiten – bog Mathilde mit Elise und Maria beim Pfarrhaus ein. Ein weiterer Termin im Dienste der Gemeinschaft, eine Pflicht, die sie gerne erfüllte. Der Vaterländische Frauenverein traf sich zur Nähstube, eine Institution, die das soziale Gewissen der Stadt verkörperte. Im Saal des Pfarrhauses roch es nach Bohnerwachs und frischer Leinwand. Die Atmosphäre war geschäftig, aber ruhig. Auf den großen Tischen lagen zugeschnittene Mullstreifen, Leinenbahnen, Garnrollen, ein Griffelbuch mit Listen, in dem die Spenden und Ausgaben notiert wurden. Die Frauen der besseren Gesellschaft hatten sich versammelt, um Gutes zu tun, um ihrer Verantwortung gerecht zu werden, die ihr Stand mit sich brachte. Seit 1882 traf sich hier der Vaterländische Frauenverein, gegründet unter dem Protektorat der Großherzogin Elisabeth von Oldenburg. Eine Organisation, die Frauen die Möglichkeit gab, sich gesellschaftlich zu engagieren, außerhalb des eigenen Haushalts, im Dienste der Nächstenliebe und der vaterländischen Pflicht. Aus dieser bürgerlichen Arbeit war in diesem Jahr das Elisabeth-Krankenhaus erwachsen – ein Haus mit 25 Betten, das man nun täglich mit Händen und Herzen mittrug. Die Frauen nähten, strickten, sammelten Spenden, organisierten die Versorgung der Kranken, eine stille Armee der Barmherzigkeit, die im Hintergrund wirkte, aber unverzichtbar war für das Funktionieren der Stadt. Ohne Prunk, mit Maß: Nähen, zählen, tragen. Die Arbeit des Vereins war praktisch und konkret, sie richtete sich an den Bedürfnissen der Menschen aus. Neben Verbandszeug und Leinen für das Krankenhaus dachte man hier auch an die leisen Nöte, die oft im Verborgenen blieben, die Armut, die sich hinter den Fassaden der Häuser versteckte. Wöchnerinnenpakete mit Hemdchen und Windeln für arme Mütter, die nichts hatten für ihre Neugeborenen. Zwei Paar Kinderschuhe in gemeinnütziger Größe, die weitergegeben wurden, wenn sie zu klein geworden waren, gespendet von einem Schuhmacher der Stadt. Und die kleinen „Suppenmarken“ für Familien, bei denen es am Herd nicht reichte, die im Pfarrhaus ausgegeben wurden, Gutscheine für eine warme Mahlzeit im Suppenverein.
Leinen und Listen
Die Bürgermeisterin führte Protokoll, notierte die Beschlüsse des Vereins, die Aufgaben, die verteilt wurden. Frau Pfarrer teilte die Arbeit ein, koordinierte die Hilfe, sorgte dafür, dass sie dort ankam, wo sie gebraucht wurde. Am Kopfende saß Schwester Therese, die Diakonisse, die dem jungen Dr. Flick assistierte und aus der Praxis berichtete, von den Bedürfnissen der Kranken und den Herausforderungen der Pflege. „Wir brauchen zehn Paar Bettlaken, gezeichnet mit rotem Faden ‚Krankenhauseigentum‘“, sagte sie mit ihrer ruhigen Stimme, die von Erfahrung und Kompetenz zeugte. „Die Wäsche wird schnell verschlissen, wir müssen vorsorgen.“ „Gaze in Bündeln zu fünfzig Ellen“ für Verbände, die täglich gewechselt werden mussten. „Wickel für Knie und Ellenbogen – nicht zu schmal“, für Umschläge bei Entzündungen und Verletzungen. „Zwei Schürzen für die Milchküche“, in der die Milch für die Kranken abgekocht wurde, um Infektionen zu verhindern. Mathilde, die Apothekertochter, prüfte die Etiketten für zwei kleine Hausapotheken, die an bedürftige Familien ausgegeben werden sollten. Kampfer gegen Erkältungen, Salmiakgeist zur Belebung, Spirit. sapon. (Seifenspiritus) zur Reinigung, Zinkleinwand für Verbände. Sie kannte sich aus mit den Arzneien und ihrer Anwendung, ein Wissen, das sie von ihrem Vater gelernt hatte. Sie machte sich eine Liste für ihn: „Gummistopfen Nummer 2 und 3, zwanzig Stück. Sie fehlen im Krankenhaus.“ Rückblick beim Aufräumen der Stoffbahnen. Die Frauen erinnerten sich an die Anfänge ihrer Arbeit, an die Mühen und die Erfolge, die sie gemeinsam erreicht hatten. „Wissen Sie noch,“ sagte die Bürgermeisterin, ihr Blick ging in die Ferne, eine Mischung aus Stolz und Wehmut lag in ihrer Stimme, „als wir 1882 das erste Mal hier saßen – nur mit einer Liste und einem Kästchen für Spenden? Wir hatten nichts als unseren guten Willen und das Vertrauen auf Gottes Hilfe.“ Frau Pfarrer nickte zustimmend: „Drei Jahre haben wir organisiert: sammeln, zählen, nähen, verhandeln mit den Behörden, Pläne prüfen für den Bau des Krankenhauses, Rückschläge tragen, wenn das Geld nicht reichte oder die Genehmigungen auf sich warten ließen. Und heute steht das Haus. Es ist ein Segen für unsere Stadt, ein Wunder, das wir selbst vollbracht haben.“ Mathilde lächelte leise: „Ich sehe uns noch, wie wir die ersten Laken gezeichnet haben, mit zittrigen Händen vor Aufregung und Stolz, und wie wir uns fragten, ob die Bahn rechtzeitig Glaswaren für die Fenster und die Ausstattung bringen würde. Jetzt ist es geschehen. Wir haben es gemeinsam geschafft.“ Schwester Therese fügte schlicht hinzu, ihre Hände lagen ruhig im Schoß, die Hände einer Frau, die zupacken konnte: „Und morgen werden wieder Betten bezogen. Die Arbeit geht weiter. Jeden Tag.“ Elise knotete Fäden an die Laken, Maria sortierte Zwirn nach Farben. Die Mädchen arbeiteten still im Kreis der Frauen, sie wurden eingebunden in die Arbeit, lernten früh, was es hieß, Verantwortung zu übernehmen. Elise, die schon geschickter war, zeigte Maria, wie man den Faden richtig hielt, damit er sich nicht verhedderte. Die Frau des Bürgermeisters tätschelte Elise den Kopf. „Du bist ja schon eine richtige Hilfe, mein Kind.“ Maria hielt ihr eine perfekt nach Farben geordnete Spule Zwirn hin und blickte sie ernst an. Ein leises Lächeln huschte über die Gesichter der Frauen. Auch die Kleinsten lernten hier, was es hieß, Teil des Ganzen zu sein, einen Beitrag zu leisten für die Gemeinschaft. Zum Schluss ein leises Gebet, ein Moment der Einkehr und des Dankes. Mathilde verpflichtete sich zu zwei Schürzen, „die bei Dampf nicht eingehen“, aus festem Leinen, ein praktischer Beitrag zur Arbeit im Krankenhaus, und richtete Schwester Thereses Bitte um zwei Dutzend Glasröhrchen an die Apotheke aus. Ein erfolgreicher Nachmittag im Dienste der Nächstenliebe.
Übung vor dem Brand
Plötzlich wurde die Ruhe des Nachmittags durchbrochen. Ein Junge lief über den Kirchplatz, seine Stimme überschlug sich vor Aufregung: „Rauch! Beim Schmied! Es brennt!“ Es war nur der Schornstein beim Schmied, der Feuer gefangen hatte, ein kleiner Brand im Abzug, der durch Rußablagerungen entstanden war. Eine Gefahr, die schnell gebannt werden konnte, wenn man rechtzeitig handelte. Aber die Männer der Freiwilligen Turnerfeuerwehr kamen sofort zusammen. Die Übung wartete nicht auf den Ernstfall, die Disziplin erforderte sofortiges Handeln. Herfurth, der gerade auf dem Weg zur Turnhalle war, hörte das Signal des Hornisten, zwei kurze Töne, die die Männer zum Sammeln riefen. Er änderte seine Richtung, eilte zum Spritzenhaus am Kirchplatz. Er war der Hauptmann der Turnerfeuerwehr, eine Position, die er mit der gleichen Disziplin und Hingabe ausfüllte wie seinen Beruf als Lehrer. Leiter vom Haken an der Wand des Spritzenhauses, Eimer zur Hand. Die Männer eilten herbei, aus den Werkstätten, aus den Geschäften, von der Straße. Sie trugen ihre Arbeitskleidung, aber ihre Bewegungen waren geordnet und zielgerichtet, das Ergebnis regelmäßiger Übungen. „Ruhig“, sagte Herfurth, seine Stimme war fest und klar, sie übertönte den Lärm der Schaulustigen, die sich bereits versammelt hatten. „Erst sehen, dann gehen.“ Keine Hektik, keine Panik, sondern geordnetes Handeln. Das war das Prinzip der Turnerfeuerwehr, das er ihnen immer wieder eingeschärft hatte. Sie erreichten die Schmiede. Dichter Rauch quoll aus dem Schornstein, Funken stoben in den Himmel. Zwei Männer stiegen auf das Dach des Schmieds, ausgerüstet mit Eimern und Besen, um den Brand von oben zu bekämpfen. Einer sicherte die Leiter von unten, einer hielt die Straße frei für die Handdruckspritze, die schnell herbeigeholt worden war. Ein Nachbar rief aus dem Fenster Ratschläge zu, die niemand hörte. Die Frau des Schmieds holte ein Tuch für den Ruß, der aus dem Schornstein fiel und sich auf die Straße legte, ein schwarzer Schnee im Frühling. „Wasser!“ Ein dünner Strahl aus der Spritze, genug für die Flamme, die wie eine Zunge aus der Mauer leckte. Das Feuer war schnell unter Kontrolle, das Zischen des Wassers auf dem heißen Stein das einzige Geräusch. Der Rauch wurde weniger, die Gefahr war gebannt. „Aus“, sagte der Schmied, fast verlegen über die Aufregung, die er verursacht hatte. Er wischte sich die rußgeschwärzten Hände an der Hose ab. „Danke, meine Herren. War nur ein kleiner Brand im Abzug.“ Die Männer hängten die Leiter zurück, rollten die Schläuche zusammen, brachten die Spritze ins Depot. Kein Applaus von den Zuschauern. Nur ein Nicken. Die Pflicht war getan, die Ordnung wiederhergestellt. Ordnung lernte man nicht im Brand, sondern vorher. In der Ruhe und der Disziplin der Übung lag die Sicherheit im Ernstfall. Die Turnerfeuerwehr war bereit, die Stadt zu schützen. Herfurth war zufrieden.
Der verbotene Ball
Der kleine Feueralarm beim Schmied war vorüber. Die Männer, darunter sein Vater, waren noch dabei, die Geräte zu ordnen. Der Nachmittag neigte sich dem Ende zu, doch die Sonne stand noch hoch genug. Für Karl August bot sich eine Lücke, ein unbeobachteter Moment. Die Ermahnung des Vaters vom Frühstückstisch klang ihm noch im Ohr – „Wir turnen“ –, doch die Neugier und das Bild der rennenden Jungen auf der Wiese waren stärker. Mit klopfendem Herzen schlich er sich davon. Nicht weit, nur hinter die alte Lohgerberei, wo er sie schon einmal gesehen hatte. Und tatsächlich, sie waren wieder da. Vier Jungen, etwas älter als er, Lehrlinge aus dem Sägewerk und der Schreinerei. Sie hatten wieder diesen runden, festen Lederball. Karl versteckte sich hinter einem Stapel alter Fässer und beobachtete sie. Es war, wie er es in Erinnerung hatte: ein wildes, ungestümes Jagen. Es gab keine geraden Linien, keine einstudierten Bewegungen wie beim Turnen am Reck. Die Jungen rannten kreuz und quer, lachten, riefen durcheinander. Einer stolperte, rappelte sich lachend wieder auf und rannte weiter. Es war ein Chaos, aber ein fröhliches, lebendiges Chaos. Einer der Jungen, ein kräftiger Bursche namens Fritz, entdeckte ihn. „Na, Kleiner? Willst du nur zuschauen oder auch mal treten?“ Karl zögerte. Die Stimme seines Vaters war wie ein unsichtbarer Zaun um ihn herum. Haltung bewahren. Kein ungeordnetes Hinterherlaufen. Doch der Ball rollte genau vor seine Füße. Er war aus dicken, zusammengenähten Lederstücken gefertigt und roch nach Fett und Erde. Er war schwerer, als er aussah. Ohne weiter nachzudenken, tat Karl, was er die anderen hatte tun sehen. Er holte mit dem Fuß aus und trat gegen den Ball. Der Stoß war ungeschickt. Er traf den Ball nicht richtig, und dieser hoppelte nur ein paar Meter weit. Die anderen Jungen lachten, aber es war kein spöttisches Lachen. „Nicht mit der Stiefelspitze, du Held! Mit der Seite!“, rief Fritz ihm zu. Sie ließen ihn mitspielen. Karl rannte mit ihnen, außer Atem, das Herz hämmerte ihm in der Brust, teils vor Anstrengung, teils vor dem schlechten Gewissen. Er versuchte, den Ball mit dem Fuß zu führen, ihn zu kontrollieren, aber das Lederding schien einen eigenen Willen zu haben. Es war das genaue Gegenteil von allem, was er gelernt hatte. Beim Turnen beherrschte man den Körper. Hier beherrschte der Ball das Spiel. Dann passierte es. In einem unachtsamen Moment jagte er dem Ball nach, stolperte über eine Grasnarbe und fiel der Länge nach hin. Er landete weich im Gras, aber sein rechter Stiefel schrammte über einen verborgenen Stein. Als er aufstand, sah er es sofort: eine tiefe, hässliche Schramme im blank polierten Leder. Das Spiel war für ihn sofort vorbei. Die Freude war verflogen, ersetzt durch die kalte Angst vor der Entdeckung. Ein zerkratzter Stiefel war mehr als nur ein kleiner Schaden. Es war ein sichtbares Zeichen der Unordnung, der Nachlässigkeit. Sein Vater würde es sofort bemerken. Er murmelte eine Entschuldigung und lief nach Hause. Der Geruch des Leders und die Erinnerung an das freie, wilde Rennen vermischten sich mit der bitteren Ahnung, die Regeln übertreten zu haben. Er hatte für einen kurzen Moment eine andere Welt betreten, eine Welt ohne Takt und Maß, und sie hatte eine sichtbare Spur an ihm hinterlassen.
FÜNFTER TEIL: DER ABEND
Die Turnstunde vor den Toren
Kraft, Kameradschaft, klarer Stand: der Körper lernt Ordnung. Das Turnen war für Herfurth mehr als nur körperliche Ertüchtigung. Es war eine Weltanschauung, eine Schule für den Charakter, eine patriotische Pflicht. Die Ideen von Turnvater Jahn, die Verbindung von körperlicher Stärke und geistiger Disziplin, waren für ihn Leitbild. Ein Becher Getreidekaffee zur Stärkung, schnell getrunken in der Küche, dann wechselte Herfurth das Gewand. Der Gehrock wurde gegen die Turnkleidung getauscht. Leinenhemd, die Ärmel hochgerollt, die Schnürung der Hose fester gezogen. Die Krawatte blieb in der Schublade. Die Förmlichkeit des Tages wich der praktischen Notwendigkeit der Bewegung. Mathilde legte ein frisches Handtuch in die Tasche und lächelte: „Für nach dem Turnen.“ Eine kleine Geste der Fürsorge, die seine Arbeit würdigte. Er nickte dankbar. Am Stadtrand stand die zur Turnhalle umgebaute Scheune. Ein einfaches Gebäude, Lehmboden, offener Dachstuhl, ein kleiner Geräteraum. Kein Luxus, aber ausreichend für die Bedürfnisse der Turner. Der Geist des Turnens brauchte keine prunkvollen Hallen, sondern Hingabe und Disziplin. Reck, Barren, Pferd wurden hinausgetragen auf den Turnplatz neben der Scheune. Matten wurden gelegt, um die Landungen abzufedern. Die Geräte waren einfach, aber solide, gepflegt von den Turnern selbst, ein Zeichen von Wertschätzung für das Material. Als Herfurth auf den Hof trat, stellten sich die Männer wie von selbst in einer Reihe auf. Junge Burschen und gestandene Männer, Handwerker, Kaufleute, Beamte. Im Turnverein waren alle gleich, verbunden durch das gemeinsame Ziel der körperlichen Ertüchtigung und der Kameradschaft. Respektvoll, diszipliniert. „Gut Heil, Herr Vorsitzender!“ Der Gruß der Turner, kraftvoll und klar, hallte über den Platz. „Gut Heil, meine Herren!“ Herfurth erwiderte den Gruß, seine Stimme fest und kameradschaftlich.
Kraft und Kameradschaft
Die Kommandos waren knapp und freundlich. Keine militärische Strenge, sondern eine Atmosphäre von gegenseitigem Respekt und gemeinsamer Anstrengung. Aufwärmen zuerst. Armpendeln, Rumpfbeugen, Kniehebelauf in Platzbahnen. Der Atem fand in den Takt, die Bewegungen wurden synchron ausgeführt. Die Gruppe wurde zu einem Körper, einem Organismus, der sich im Gleichklang bewegte. Dann Riegen, eingeteilt nach Alter und Können. Die Jüngeren am Reck. Griff, Vorschwung, Aufschwung, Abgang, sauberer Stand. Die Bewegungen waren noch ungelenk, aber der Wille war da, die Anstrengung sichtbar. Es ging um Körperbeherrschung, um die Überwindung der Schwerkraft, um die Eleganz der Bewegung. Die Erfahrenen an den Barren. Stütz, Kehre, Grätschschwung. Die Körperbeherrschung war beeindruckend, die Kraft wurde sichtbar, aber kontrolliert eingesetzt. Die Muskeln spannten sich unter der Haut, der Schweiß trat auf die Stirn, aber die Haltung blieb aufrecht. Herfurth turnte vor, nicht um zu glänzen, sondern um die Bewegung still zu zeigen, die ideale Form. Er erklärte die Technik, die Haltung, die Atmung. „Ruhig“, sagte er, wenn ein Turner zu hastig war. „Spannung halten.“ Und die Landung wurde leiser, sicherer. Die Präzision der Bewegung stand im Vordergrund, nicht die Show. Am Pferd rutschte ein Schlosserbursche ab, landete unsanft auf der Matte. Er lachte, stand auf – und machte es noch einmal. Der Fehler war kein Scheitern, sondern eine Gelegenheit zum Lernen, zur Verbesserung. Die Kameradschaft zeigte sich in der gegenseitigen Unterstützung, im Anfeuern, im Lob für gelungene Übungen. Hinweise als praktische Freundlichkeiten: Hände trocken halten mit Magnesia, nie quer über die Matten laufen, Holme abreiben nach der Übung, Risse in den Geräten melden. Die Sicherheit ging vor, die Ordnung musste gewahrt bleiben, auch beim Sport. Seit dem 19. Oktober 1883 führte Herfurth als Hauptmann die Freiwillige Turnerfeuerwehr (Feuerwehr-Turnerriege). Viele der Gesichter hier waren auch bei dem kleinen Brand am Nachmittag dabei gewesen. Dieselben Hände, die am Reck griffen, fassten an der Leiter richtig zu. Die Turnstunde war auch eine Übung für den Ernstfall. Die Riegen wurden so zum stillen Rekrutierungsfeld: Kraft, Maß, Kameradschaft. Die Tugenden des Turners waren auch die Tugenden des Feuerwehrmanns. Die Gemeinschaft trug den Verein. Der Schmiedemeister hatte zwei neue Stahlstangen fürs Reck zugesagt, eine Spende für den Verein. Hansen, der Fuhrwerksbesitzer, wollte die neuen Matten aus dem Nachbarort holen, kostenlos mit seinem Fuhrwerk. Am Ende erwähnte Herfurth, man wolle in den nächsten Wochen einen Turn-Abend zugunsten des Elisabeth-Krankenhauses geben. Ein Schauturnen, um Spenden zu sammeln. „Für Verbandszeug und Bettstellen.“ Zustimmendes Brummen in der Runde. Der Schmied hob die Hand: Er stifte die Eisenwinkel für zwei neue Bettgestelle. Die Solidarität war groß, die Verbindung zwischen Verein und Stadt eng. Zum Schluss dehnten sie die Muskeln und sangen ein Turnerlied. Kraftvoll, nicht gebrüllt. Die Stimmen vereinten sich zu einem harmonischen Klang, der über den Platz hallte, ein Ausdruck von Zusammenhalt und patriotischer Gesinnung. „Gut Heil!“ – Geräte fort, Riegel vor. Die Turnstunde war beendet. An der Pumpe fuhren kalte Wasserfäden über Hände und Gesicht. Der Schweiß wurde abgewaschen, die Haut gekühlt. Die Müdigkeit setzte sich ordentlich in den Muskeln, eine angenehme Schwere. Der Kopf wurde frei. Ein Gefühl der Zufriedenheit stellte sich ein.
Eifer und Maß
Abend wurde Stadtgespräch: Plan und Pragmatik. Auf der Hauptstraße fielen die Ladenklappen. Die Geschäfte schlossen, die Arbeit des Tages war getan. Die Straßen leerten sich langsam, die Menschen zogen sich in ihre Häuser zurück. Es war Zahltag in den Werkstätten. Die Arbeiter hatten ihren Lohn erhalten. Man zählte Münzen zweimal und teilte sie stumm auf – Miete für die Wohnung, Ladenrechnung beim Kolonialwarenhändler, Rest für den Lebensunterhalt. Die Ordnung der Finanzen, die Grundlage des bürgerlichen Lebens. Waren, die morgens per Bahn ankamen, standen jetzt schon ordentlich im Regal der Geschäfte. Der Kreislauf der Wirtschaft, beschleunigt durch die Moderne. Vor dem Gasthaus „Goldener Löwen“ standen zwei Landwehrmänner auf Urlaub, in Uniform. Sie tranken ein Bier und rauchten ihre Pfeifen. Sie nickten Herfurth respektvoll zu, als er vorbeiging. Am Kirchplatz saß Kirchenrat Friedrich Wilhelm Lueg auf der Bank unter der alten Linde. Herfurths Vorgänger im Vereinsvorsitz des Turnvereins. Ein älterer Herr, weise und erfahren, eine Autorität in der Stadt. „Guten Abend, Herr Kirchenrat.“ Herfurth blieb stehen, nahm den Hut ab. „Herfurth. Guten Abend. Wie laufen die Riegen? Ich höre Gutes von Ihrer Arbeit.“ „Mit Eifer, Herr Kirchenrat. Die Männer sind engagiert.“ Lueg wiegte den Kopf. „Eifer ist gut. Maß ist besser. Halten Sie die Balance. Man darf die Kräfte nicht überfordern.“ „Drum zählen wir“, antwortete Herfurth. Die Disziplin des Zählens, der Rhythmus der Übungen, die Kontrolle der Anstrengung. Lueg blinzelte in die Abendsonne, als denke er einen Schritt voraus. „Sie wissen, Herfurth: Ohne die Turnerfeuerwehr hätten wir den Verein kaum so rasch wieder auf die Beine gebracht nach den schwierigen Jahren. Die Verbindung von Turnen und gemeinnützigem Dienst war klug.“ „Seit dem Herbst ’83 üben die Steiger und die Spritzenmannschaft regelmäßig“, sagte Herfurth ruhig. „Es war der Seiteneingang, den wir brauchten, um das Turnen wiederzubeleben, ihm einen neuen Sinn zu geben, der über die reine Körperertüchtigung hinausging.“ „Und Sie als Hauptmann geben der Sache Rücken und Richtung“, entgegnete Lueg anerkennend. „Die Aufnahme in den Gauverband und die neuen Namen in der Liste der Mitglieder – man merkt, dass es wieder atmet. Der Verein lebt.“ Dann der eigentliche Grund des Gesprächs. Lueg lud Herfurth für den Abend in sein Haus ein. Eine kleine Gesellschaft, im vertrauten Kreis. Bürgermeister Eissel und Dr. Flick, der ärztliche Leiter des Krankenhauses, seien zugesagt. „Mit Ihrer Frau, Herr Herfurth. Es wäre mir eine Ehre.“ „Wir kommen zu zweit. Vielen Dank für die Einladung.“ Unter der Laube des „Löwen“ saß Herfurth noch kurz bei drei Turnkameraden, die sich nach der Turnstunde ein Bier gönnten. Nur ein Krug, denn der Abend war bestellt und er musste einen klaren Kopf bewahren. Man tauschte Anekdoten aus, lachte gemeinsam. Der Lehrling in der Schreinerei, der vor einer Maus auf den Stuhl sprang und dabei ein Regal umwarf, eine Geschichte, die immer wieder erzählt wurde. Ein Hochsprung beim Turnen, der im Sand endete und doch ein Lob für den Mut bekam, weil der Springer seine Angst überwunden hatte. Die Kameradschaft wurde gepflegt, die Bande gestärkt. „Gut Heil, meine Herren“, sagte er und stand auf. Es war Zeit, nach Hause zu gehen, sich umzuziehen für den Abend.
Die Abendgesellschaft
Leise Sätze, klare Linien: Nähe ist mehr als Strecke. Der Abend war die Zeit der Geselligkeit, des Austauschs unter Gleichgesinnten, der Pflege der sozialen Netzwerke, die das Rückgrat der Stadtgesellschaft bildeten. Zu Hause hatte Mathilde das dunkelblaue Abendkleid angelegt, ein schlichtes, aber elegantes Kleid aus guter Wolle, das ihre schlanke Figur betonte. Das Haar schmal gescheitelt und mit einer schlichten Brosche aus Silber im Nacken gefasst. Ein dünner Wollschal lag bereit für den Weg, denn die Abende waren noch kühl im Frühling. Lina blieb bei den Kindern und hatte versprochen, „auf jedes Räuspern zu hören“. Die Kinder schliefen bereits, der Tag war lang und ereignisreich gewesen, ihre Körper brauchten Ruhe. Valentin Adolf wechselte das Hemd, legte den Gehrock wieder an. Die Förmlichkeit des Abends verlangte nach angemessener Kleidung, die Etikette musste gewahrt bleiben. Der Weg führte die beiden über den Kirchplatz, der nun still im Licht der Gaslaternen lag, dann die kurze Gasse hinauf zum Haus des Kirchenrats. Ein stattliches Gebäude mit gepflegtem Vorgarten, das Wohlstand und Einfluss ausstrahlte. Im Flur Mäntel und Handschuhe ablegen, die Visitenkarten auf das silberne Tablett des Dieners legen, ein Ritual der Begrüßung, das die soziale Hierarchie bestätigte. Der Kirchenrat trat mit unangestrengter Würde aus dem Salon, begrüßte seine Gäste mit einer leichten Verbeugung. „Frau Herfurth, Herr Herfurth – Sie machen mir Ehre.“ Im Herrenzimmer roch es nach frischem Wachs, alten Büchern und ein wenig Tabak, der Duft von Bildung und Kultur. Auf dem Sideboard standen Kristallgläser, eine Karaffe Rheinwein und eine zweite mit Wasser, dazu ein Teller mit kleinen Buttergebäcken. Die Gäste waren bereits versammelt. Bürgermeister Eissel, der Motor des Fortschritts in Birkenfeld, ein Mann von Tatkraft und Visionen, der die Stadt in die Zukunft führen wollte. Dr. Flick, der junge Arzt, der das Krankenhaus leitete, sein Gesicht ernst und engagiert, geprägt von der Verantwortung, die er trug. Die Honoratioren der Stadt, die Entscheidungsträger, die das Schicksal von Birkenfeld lenkten. Die ersten Sätze galten den Höflichkeiten des Ortes. Ernteaussichten für das Frühjahr, der Zustand der Straßen nach dem Winter, die anstehende Konfirmation in der Kirche. Die vertrauten Themen, die den Rahmen für das Gespräch bildeten, die Gemeinsamkeiten betonten. Dann kam man zum eigentlichen Thema des Abends. Eissel legte die Hand – mit einem kleinen, fast privaten Stolz – auf die Lehne seines Sessels. Er nahm einen Schluck Wein, sammelte seine Gedanken. „Meine Herren, meine Damen – seit fünf Jahren zählt Birkenfeld seine Schritte kürzer. Am 2. Dezember 1879 erhielten wir die Konzession für die Zweigbahn; am 15. Oktober 1880 fuhr der erste Zug. Ein Meilenstein für unsere Stadt, der uns Wohlstand und Fortschritt gebracht hat, der uns mit der Welt verbindet.“ Er machte eine Pause, um seinen Worten Wirkung zu verleihen. „Und seit diesem Jahr“ – er nickte Dr. Flick zu – „zählt es sie menschlicher.“
Nähe und Fortschritt
Leises Murmeln der Zustimmung. Das Elisabeth-Krankenhaus, die zweite große Errungenschaft der letzten Jahre, ein Symbol für den Gemeinsinn der Bürger, für die Verbindung von Fortschritt und Humanität. Dr. Flick berichtete von der Arbeit im Krankenhaus. Seine Stimme war leise, aber eindringlich. Er sprach von den Herausforderungen, aber auch über die Erfolge der modernen Medizin, die nun auch in Birkenfeld Einzug hielt. „Wir haben derzeit zwölf Betten belegt, drei müssen wir morgen richten für neue Patienten. Die meisten Fälle sind Verletzungen, die bei der Arbeit passiert sind, aber auch Krankheiten wie Lungenentzündung und Typhus, die wir nun besser behandeln können.“ Er lobte die Unterstützung der Stadt und der Bürger. „Leinen ist knapp, aber geordnet dank der Unterstützung des Frauenvereins. Die Arzneien trafen dank der Bahn rechtzeitig ein, von der Apotheke Gleimann zuverlässig geliefert.“ Der Kirchenrat schob das Tablett mit den Gläsern heran. Er sah die Verbindung zwischen materiellem Fortschritt und moralischer Verantwortung. „Man lernt“, sagte er nachdenklich, seine Worte waren wohlüberlegt, „dass Nähe nicht nur eine Strecke auf der Karte ist. Nähe ist auch die Verantwortung füreinander, die Sorge für den Nächsten, die Verpflichtung zur Hilfe.“ Bürgermeister Eissel hakte sofort ein, seine Augen leuchteten vor Tatendrang. „Ganz recht, Herr Kirchenrat! Und diese neue Nähe müssen wir nutzen. Ich denke da schon weiter. Die Bahn bringt uns nicht nur Waren, sie bringt uns Licht ins Dunkel. Ich habe mit der Gasgesellschaft in Mainz verhandelt. Wir könnten die Hauptstraße und den Kirchplatz mit Gaslaternen ausstatten. Stellen Sie sich das vor! Sicherheit am Abend, die Geschäfte könnten länger offen bleiben, das gesellschaftliche Leben würde aufblühen!“ Kirchenrat Lueg zog bedächtig an seiner Zigarre und blies den Rauch zur Seite. Sein Blick war skeptisch. „Licht ist ein Segen, Herr Bürgermeister, zweifellos. Aber zu welchem Preis? Die Stadt ist bereits verschuldet durch den Bau der Bahnlinie. Gaslaternen sind teuer im Unterhalt. Und ich frage mich: Brauchen wir das wirklich? Der Rhythmus von Tag und Nacht ist von Gott gegeben. Zwingen wir die Menschen mit künstlichem Licht nicht in eine unnatürliche Eile, in ein Leben, das keine Ruhe mehr kennt?“ Dr. Flick, der bisher meist geschwiegen und zugehört hatte, räusperte sich. „Wenn wir über Fortschritt und die öffentlichen Mittel sprechen“, sagte er mit seiner präzisen, sachlichen Art, „dann sehe ich eine noch dringendere Notwendigkeit als das Licht auf den Straßen. Ich spreche von dem, was unter den Straßen liegt. Unser Wasser. Die meisten Haushalte holen es noch immer von öffentlichen Brunnen, deren Reinheit wir kaum kontrollieren können. Die Abwässer versickern oft unkontrolliert im Boden. Wenn wir eine Typhus- oder Cholera-Epidemie verhindern wollen, die unser neues Krankenhaus sofort an seine Grenzen brächte, dann müssen wir über eine zentrale Wasserversorgung und eine Kanalisation nachdenken. Das ist weniger sichtbar als eine leuchtende Laterne, aber es rettet Leben.“ Das war ein kühner Gedanke, fast revolutionär für eine Stadt dieser Größe. Eissel schaute beeindruckt, aber auch besorgt wegen der immensen Kosten. Hier schaltete sich Valentin Adolf Herfurth ins Gespräch ein. Er hatte aufmerksam zugehört, die verschiedenen Stränge der Argumentation in seinem Kopf geordnet. „Meine Herren“, begann er ruhig, und alle wandten sich ihm zu. „Sie sprechen von drei großen Dingen: wirtschaftlichem Fortschritt, moralischer Beständigkeit und gesundheitlicher Vorsorge. Jedes hat seine Berechtigung. Doch gestatten Sie mir als Lehrer die Anmerkung: All dieser Fortschritt – sei es die Bahn, das Gaslicht oder sauberes Wasser – ist nur so viel wert wie die Menschen, die ihn nutzen.“ Er richtete sich leicht auf, seine Haltung war die des Pädagogen. „Was nützt uns eine Gaslaterne, wenn die Jugend darunter herumlungert, anstatt ihre Aufgaben zu erledigen? Was nützt uns die schnellste Bahn, wenn sie nur dazu dient, törichte Moden wie dieses Fußballspiel aus England zu importieren, das die Disziplin untergräbt? Und was nützt die beste Kanalisation, wenn die Bürger nicht zu persönlicher Sauberkeit und Ordnung erzogen sind?“ Er machte eine kurze Pause. „Der wahre Fortschritt beginnt nicht in den Straßen, sondern in den Köpfen. In der Schule, im Elternhaus und ja, auch im Turnverein. Wir müssen den jungen Menschen Haltung beibringen. Disziplin. Ein Verständnis für Maß und Ziel. Wenn uns das gelingt, werden sie jede Neuerung, sei es eine Maschine oder eine Arznei, vernünftig und zum Wohle der Gemeinschaft nutzen. Ohne diese Grundlage aber schafft Fortschritt nur neue Formen der Unordnung.“ Es entstand eine nachdenkliche Stille im Raum. Herfurths Worte hatten den Kern der Sache getroffen und die verschiedenen Perspektiven auf ein gemeinsames Fundament zurückgeführt. Der Kirchenrat nickte langsam. „Haltung. Ja. Das ist das Wort, das uns leiten sollte.“ Bürgermeister Eissel, der Mann der Tat, seufzte leise. „Sie haben recht, Herfurth. Aber die Erziehung eines Volkes dauert Generationen. Eine Gasleitung kann ich in einem Jahr legen.“ „Und doch“, schloss Dr. Flick den Gedankengang ab, „beginnt beides mit dem ersten, wohlüberlegten Schritt. Vielleicht sollten wir mit den Schulen anfangen und dafür sorgen, dass dort die Brunnen die saubersten sind.“ Auf diesen Kompromiss konnten sich alle einigen. Die Diskussion hatte die Komplexität der Zeit offengelegt – den Kampf zwischen dem Machbaren und dem Wünschenswerten, zwischen materieller und geistiger Entwicklung. Mathilde saß neben der Bürgermeisterin, hörte ein wenig seitlich zu, wie es die Höflichkeit verlangte. Die Frauen hielten sich im Hintergrund, aber ihr Einfluss war spürbar, ihre Arbeit unverzichtbar für das Funktionieren der Gemeinschaft. „Wir Frauen,“ sagte die Bürgermeisterin lächelnd, ihre Augen blitzten vor Ironie und Selbstbewusstsein, „sollen wohl dafür sorgen, dass Leinenschränke nicht leer und Suppentöpfe nicht kalt werden. Die stille Arbeit im Hintergrund, die das Leben erst möglich macht, während die Männer die großen Reden halten.“ Mathilde erwiderte: „Wir hatten heute Nähstube im Pfarrhaus; Gaze gebündelt, Laken gezeichnet, Schürzen zugesagt. Die Arbeit geht uns nicht aus. Und was die Küche betrifft – ich weiß, wo gute Hände sind. Der Suppenverein leistet Großartiges.“ Ein kurzer, ernster Blick zwischen den Damen – man verstand sich. Die Frauennetzwerke funktionierten, leise, aber effektiv, sie bildeten das soziale Gewissen der Stadt. Beim Übertritt in den Salon, wo der Kaffee serviert wurde, fiel noch ein kurzes Wort zur Ordnung der Dinge. Das Gespräch wendete sich dem Turnverein zu, dem Stolz der Stadt. „Neunzehnter Oktober dreiundachtzig – ein guter Abend für Birkenfeld“, bemerkte Lueg halblaut zu Herfurth. „Die Gründung der Freiwilligen Turnerfeuerwehr war der erste sichere Tritt auf neuem Boden. Sie hat dem Verein neuen Auftrieb gegeben, ihm eine neue Aufgabe verliehen.“ Herfurth nickte knapp. „Wir halten die Übungen sauber. Disziplin und Kameradschaft sind das Fundament. Wenn der Verein trägt, trägt auch die Stadt.“ Die Bedeutung der Vereine für das soziale Leben der Stadt konnte nicht hoch genug eingeschätzt werden. Sie waren Schulen der Demokratie, Orte der Begegnung, Träger der Kultur.
Musik und Gemeinschaft
Bevor man aufbrach, bat der Kirchenrat im Salon um ein wenig Musik. Ein Pianino stand in der Ecke, ein Zeichen von Bildung und Kultur, das in keinem bürgerlichen Haushalt fehlen durfte. Auf dem Notenständer lag eine Choralbearbeitung aus Mainz – jene, die der Postbote am Nachmittag gebracht hatte. Die Musikalien, die per Bahn gekommen waren, ein Zeichen der Verbundenheit mit der Welt der Musik. Mathilde stand nicht gern vor Leuten, sie war zurückhaltend und bescheiden. Doch Herfurth blätterte die Noten durch, setzte sich an das Instrument und spielte. Er war nicht nur Lehrer und Turner, er war auch Organist und Chorleiter, ein Mann der Kunst und der Kultur. Vorspiel, Choral, Zwischenspiel. Die Melodie füllte den Raum, harmonisch und klar. Kein Prunk, keine Virtuosität, die sich in den Vordergrund drängte, nur Lesbarkeit für die Ohren. Die Musik als Ausdruck der inneren Ordnung, der Harmonie der Welt, der Schönheit der Schöpfung. Als der letzte Akkord verklang, herrschte einen Moment Stille. Die Musik wirkte nach, berührte die Herzen der Zuhörer. Dann sagte Eissel: „So klingt Gemeinschaft. Geordnet und doch lebendig.“ Der Kirchenrat ergänzte lächelnd: „Und wenn der Liederkranz demnächst vor der Kirche singt, wird Birkenfeld es hören. Ihre Arbeit trägt Früchte, lieber Herfurth.“ Niemand klatschte laut; es war keine Konzertveranstaltung, sondern ein Moment der Besinnung. Es genügte, dass die Blicke freundlich waren und die Worte anerkennend. Die Wertschätzung lag in der Stille, im gemeinsamen Erleben. Man brach früh auf. Der Tag begann früh, die Pflichten warteten. „Damit der Tag morgen nicht rächt, was der Abend liebte“, wie der Kirchenrat sagte, als er seine Gäste verabschiedete. Ein weises Wort zum Abschied, ein Ausdruck von Maßhalten und Disziplin, der den Lebensstil der Zeit prägte. Die Gesellschaft löste sich auf, die Gäste verabschiedeten sich. Ein gelungener Abend, der die Bande der Gemeinschaft gestärkt hatte und die Zukunft der Stadt in einem positiven Licht erscheinen ließ.
SECHSTER TEIL: DIE NACHT
Ein Haus, das atmet
Versorgung ohne viele Worte: Türen bleiben offen. Die Nacht senkte sich über Birkenfeld, die Dunkelheit umhüllte die Stadt wie ein weicher Mantel. Die Laternenanzünder zogen mit langen Stäben durch die Gassen. Die Gaslaternen wurden entzündet, eine nach der anderen. Warmes Licht zitterte über das Kopfsteinpflaster, warf lange Schatten an die Wände der Häuser und tauchte die Stadt in ein mildes, fast unwirkliches Licht. Auf dem Heimweg gingen Valentin Adolf und Mathilde schweigend nebeneinander. Die Stille war vertraut, nicht bedrückend. Die Ereignisse des Tages klangen nach, die Gespräche, die Musik, die Begegnungen. In der Apotheke Gleimann brannte noch Licht. Hinter der Scheibe sortierte der Apotheker Etikettenstapel, die Arbeit war noch nicht getan, die Pflicht kannte keine Uhrzeit. Er sah sie durch das Fenster. Ein Handheben genügte als Gruß, ein Zeichen der Verbundenheit, das keine Worte brauchte. An der Ecke stand Frau Keller mit dem Eimer, sie holte Wasser vom Brunnen für die Nacht, eine letzte Besorgung vor dem Schlafengehen. „Wie geht’s dem Ellenbogen Ihres Großen?“, fragte Herfurth im Vorbeigehen, seine Stimme war leise, aber fürsorglich. „Besser, Herr Herfurth. Viel besser. Der Herr Apotheker hat ihm eine Einreibung gegeben, die Wunder wirkt.“ „Gut. Aber morgen kein Klettern am Zaun“, mahnte Herfurth, ein väterlicher Rat, der die Ordnung wiederherstellte. „Jawohl, Herr Lehrer.“ Drei Sätze – genug, damit jemand leichter nach Hause ging. Die Fürsorge der Gemeinschaft, die auch am späten Abend nicht ruhte, die kleinen Gesten der Aufmerksamkeit, die das Leben erträglicher machten. Am Tor des Elisabeth-Krankenhauses – seit dem 7. Februar 1885 geöffnet – stand ein Wagen, der Kutscher legte die Zügel locker über den Bock. Er wartete. Vielleicht auf einen Patienten, der entlassen wurde, vielleicht auf den Arzt, der noch bei einem Kranken weilte. Eine Schwester trug ein Bündel Leinen in den Flur, die Wäsche für den nächsten Tag. Der junge Arzt, Dr. Flick, trat kurz heraus, um frische Luft zu schnappen. Er sah müde aus, aber zufrieden. Die Arbeit war getan, die Kranken versorgt. Er lüftete den Hut zum Gruß. Fünfundzwanzig Betten waren gestellt; heute Abend waren zwölf belegt. Keine großen Worte waren nötig. Wer hereingetragen wurde, sollte drinnen Ruhe finden – das genügte als Nachricht an die Stadt. Das Krankenhaus wachte über die Gesundheit der Bürger, ein stilles Versprechen von Hilfe in der Not, ein Ort der Hoffnung und der Heilung.
Die Nachtwache
Im Krankenhaus war es still. Die Korridorlampe brannte klein, warf ein schwaches Licht auf den frisch gebohnerten Boden. Die Nachtwache hatte begonnen, eine Zeit der Ruhe und der Wachsamkeit. Schwester Therese machte ihre Runde. Sie ging leise von Zimmer zu Zimmer, von Bett zu Bett, ihr Gesicht war ernst, aber gütig. Sie legte einen kühlen Umschlag an die Stirn eines fiebernden Kindes, das unruhig schlief. Sie prüfte einen Verband an einem gebrochenen Arm, der ruhiggestellt war. Sie richtete leise den Stuhl am Bett eines alten Mannes, der schwer atmete. In der Ferne rollte ein Wagen spät vorbei, vielleicht der Postwagen auf dem Weg zum Bahnhof, der die Verbindung zur Außenwelt aufrechterhielt. Das Geräusch kam gedämpft durch die Fenster, als trüge die Stadt den Atem herein, selbst in der Nacht. Die Stille war nicht absolut, sondern durchbrochen von den Geräuschen des Lebens. Dr. Flick saß im Arztzimmer, bei dem Schein einer Petroleumlampe, und schrieb eine Zeile in das Buch. Die Krankengeschichten der Patienten, die Dokumentation des Verlaufs, die Ordnung im Kampf gegen das Chaos der Krankheit. Datum, Puls, Arznei. Keine großen Worte, nur Fakten, die den Zustand der Patienten beschrieben. Eine Frau wachte neben dem Bett ihres Mannes, der schwer verletzt war, ein Arbeitsunfall im Sägewerk. Ihre Finger waren um den Henkel einer Kanne gekrampft, in der kalter Tee war. Sie wartete auf den Morgen, auf die Besserung, ihre Augen waren voller Sorge und Müdigkeit. „Es wird“, sagte die Schwester leise, als sie vorbeiging, ihre Hand berührte kurz die Schulter der Frau. „Es wird schon.“ Ein Trost, der Hoffnung gab, auch wenn die Nacht noch lang war und die Zukunft ungewiss. Auf dem Tisch im Schwesternzimmer standen sauber gestopfte Gaze und zwei Glasröhrchen, die heute Morgen die Apotheke geliefert hatte. Die Vorbereitung für den nächsten Tag, die Ordnung, die den Betrieb aufrechterhielt. Ordnung war hier Wärme mit Kante. Die Fürsorge war professionell, die Haltung diszipliniert, aber nicht ohne Mitgefühl.
Register und Rückschau
Der Tag schloss still: Register, Zeilen, Dank. In der Stube des Hauses in der Bahnhofstraße knisterte der Ofen. Die letzte Glut spendete Wärme, ein behagliches Gefühl der Geborgenheit. Mathilde hatte das Nähkörbchen auf dem Schoß, sie flickte ein Loch in Karls Strumpf, eine kleine Reparatur vor dem Schlafengehen, eine Arbeit, die nie endete. Lina stellte die Tassen leise ins Regal in der Küche, ihre Arbeit war getan. Sie ging in ihre Kammer, um sich auszuruhen. Aus der hinteren Kammer kam die dichte Ruhe des Kinderatmens. Sie schliefen fest, erschöpft von den Ereignissen des Tages. Herfurth machte seinen kleinen Rundgang, ein Ritual vor dem Schlafengehen. Er prüfte, ob die Haustür verschlossen war, ob die Fenster geschlossen waren, ob alles an seinem Platz war. Er blickte in das Zimmer der Kinder. Karl hatte das Leseblatt ordentlich gefaltet auf dem Nachttisch liegen, die Stiefel standen gerade vor dem Bett, geputzt und bereit für den nächsten Tag. Elise steckte die Fibel unters Kissen, als wollte sie die gelernten Wörter im Schlaf festhalten, damit sie nicht entkamen. Maria hielt noch den Puppenlöffel in der Hand, sie war über dem Spiel eingeschlafen, ihr Gesicht friedlich und entspannt. Der kleine Adolf lag quer im Bett, die Füße im Warmen, der Kopf fast am Rand. Eine Hand, ein Griff, die Decke saß wieder. Christoph schlief schwer, die Kinderhand offen auf dem Kissen, als wolle er die Welt empfangen. Herfurth blieb einen Atemzug länger neben ihm stehen und lächelte. In diesem Moment war er nicht der strenge Lehrer, der Vorsitzende des Turnvereins, sondern einfach nur ein Vater, der sein Kind betrachtete, voller Liebe und Zärtlichkeit. Niemand ahnte, dass dieser Knabe einmal der Großvater jenes Mannes sein würde, der diese Geschichte schreibt – ein gütiger, liebevoller Opa. In seinem friedlichen Gesicht, dem unschuldigen Schlaf, sah Valentin Adolf für einen flüchtigen Moment nicht nur die Gegenwart, sondern das ungeschriebene Versprechen der Zukunft. Es war ein Gefühl, das schwerer wog als alle Sorgen des Tages, ein Gefühl von Hoffnung und Kontinuität. Und doch lag in seiner Stirn etwas, das den Vater an Ordnung denken ließ und an Maß. Die Zukunft musste geordnet sein, damit sie Bestand hatte. Auf dem Sekretär in der Stube lag die Choralmappe. Er notierte, wie er morgen die Orgel registrieren wollte für den Gottesdienst. Prinzipal 8’, Gedackt 8’, Flöte 4’; im Pedal der Bordun 16’. Ein leises Vorspiel, ein Zwischenspiel nach der zweiten Strophe – keine Bravour, Lesbarkeit für die Gemeinde. Die Musik im Dienst der Verkündigung, klar und strukturiert. Daneben steckte der Zettel für die nächste Liederkranz-Probe: Donnerstag 8 Uhr im Pfarrsaal – Männerchor, Satz für Pfingsten. Die Planung für die nächsten Tage, die Struktur, die den Alltag bestimmte. Nebenan lehnte die Musikalienrolle aus Mainz. Die Bahn hatte die Wege verkürzt: Was früher ein halbes Quartal brauchte, lag nun binnen Tagen auf dem Tisch. Der Fortschritt erleichterte die Arbeit, aber er forderte auch Tempo und Anpassung. Er setzte sich, tauchte die Feder in Tinte und schrieb klein und ordentlich in sein Tagebuch. Eine Chronik des Tages, eine Selbstvergewisserung, eine Bilanz. Die Ereignisse wurden festgehalten, geordnet, reflektiert. Mai 1885. Bahnhof früh lebhaft. Güterverkehr nimmt zu. Unterricht ruhig; Schneider stockt bei der Übersetzung, fängt sich aber wieder. Pausenstreit zwischen Becker und Klein – Wiedergutmachung, Handschlag, Strafarbeit – Hof wieder ruhig. Visitation durch Direktor und Schulinspektor zufriedenstellend; Hinweis auf Hygiene (Krankenhaus). Müssen mehr lüften. Disciplin Sexta (zwei Schüler im Apothekengarten) – Verwarnung, Samstag Nachsitzen. Verein gut besucht; Schmied fertigt Stangen für das Reck; Hansen bringt Matten. Turnstunde nach kleinem Feueralarm (Schmiede) geordnet. Frauenverein (gegr. 1882) heute Nähstube im Pfarrhaus: Leinen, Gaze, Milchküche; Schwester Therese bittet um Glasröhrchen für das Krankenhaus. Turn-Abend zugunsten des Elisabeth-Krankenhauses in Planung. Spenden zugesagt. Musikalien aus Mainz eingetroffen; Kartenrollen für die Schule per Bahn geliefert. Elisabeth-Krankenhaus heute 12 Betten belegt; Bedürftige über Suppenverein versorgt. Liederkranz-Probe Do 8 Uhr (Pfarrsaal): Männerchor-Satz für Maifest. Feuerwehr: Übungen geordnet; Steiger zuverlässig. Kinder gesund; Karl tüchtig am ersten Tag in der Sexta; Elise lernt eifrig lesen; Maria sorgsam im Spiel; kleiner Adolf eigensinnig, aber beherrschbar; Christoph gut entwickelt. Mathilde stark; Lina treu. Deo gratias.
Nóstos
Später, als die Laternen ruhig brannten und die Stadt in Dunkelheit gehüllt war, nahm Karl in seinem Zimmer die Tafel noch einmal auf den Schoß. Er war aufgewacht, konnte nicht schlafen, die Eindrücke des Tages wirkten nach. Er schrieb langsam „nóstos“, das griechische Wort für Heimkehr, das er am Vormittag gehört hatte. Er pustete den feinen Kreidestaub weg und legte die Tafel so hin, dass die Schrift zur Lampe zeigte – als wolle er, dass das Wort sich merkt, wo es hingehört. Valentin Adolf blies die Tinte auf dem Tagebucheintrag trocken, drehte die Petroleumlampe herab und trat ans Fenster. Sterne über den Dächern von Birkenfeld, die dunkle Linie des Schlossbergs am Horizont, Laternen, die still standen in der Nacht. Die Ordnung des Himmels spiegelte die Ordnung auf Erden wider. Dann löschte er die Lampe. Im Elternzimmer, eine Tür weiter, legte sich Valentin Adolf neben Mathilde. Sie reichten einander die Hand in der Dunkelheit, ein stilles Zeichen der Verbundenheit, eine Bestätigung ihrer Liebe und ihres Vertrauens. Als die Turmuhr zehn schlug, schlief Birkenfeld. Der Tag war zu Ende. Ein Tag, der atmete, war vergangen.
Die Spur bis heute
Die Geschichte endet nicht an diesem Tag im Frühjahr 1885. Sie zieht ihre Spuren bis in die Gegenwart, in den Institutionen, die damals gegründet wurden, und in den Familien, die sie getragen haben. Die Apotheke in Birkenfeld – 1725 gegründet und 1831 in das bis heute genutzte Gebäude verlegt – trägt seit 1887 den Namen „Hirsch-Apotheke“. Sie ist ein Symbol für Kontinuität und Wandel. Die Stadt erinnert sich an Handwerk und Heilkunst – und an die Familien, die dieses Haus getragen haben. Unter den Gästen bei Jubiläen findet sich oft Wolfgang Herfurth, Urenkel von Valentin Adolf Herfurth – eine lebendige Brücke von jenem Frühjahrstag 1885 bis in die Gegenwart. Valentin Adolf Herfurth hat Spuren hinterlassen in Birkenfeld. Bereits am 19. Oktober 1883 wurde in Birkenfeld eine Freiwillige Turnerfeuerwehr (Feuerwehr-Turnerriege) gegründet; ihr Hauptmann: Gymnasiallehrer Adolf Herfurth, der die Einheit bis 1905 führte und ab 1885 zugleich den Turnverein leitete. Nach Vereinsüberlieferung war er der am längsten amtierende Vorsitzende des Turnvereins Birkenfeld; 1911 wurde er – anlässlich seines 25-jährigen Amtsjubiläums – zum Ehrenvorsitzenden ernannt, im Januar 1912 legte er das Amt nieder. Nach dem Ersten Weltkrieg ruhte das Vereinsleben – die Wunden des Krieges waren tief. Doch 1919 übernahm Adolf Herfurth, obwohl längst zurückgetreten, auf Bitte der Turnkameraden noch einmal kommissarisch für etwa zwei bis drei Monate die Leitung, um den Betrieb nach Kriegsende wieder anzuschieben. Kurz darauf musste er sich krankheitsbedingt endgültig zurückziehen. 1919 wurde auch der SC Birkenfeld gegründet. Das „englische Spiel“, der Fußball, hatte sich durchgesetzt. 1920 fusionierte der TV Birkenfeld (TVB) mit dem SC Birkenfeld; der Fußball firmierte fortan als Abteilung im TV – und das über mehrere Jahre. Später löste sich der SC Birkenfeld wieder einvernehmlich aus dem TVB und führte die Fußballtradition als eigenständiger Verein weiter – auf beiderseits freundschaftlicher Basis. In Jahr und Jahrzehnt dieser Geschichte wirkte Herfurth zudem als Dirigent des Männerchors „Liederkranz“ (seit 1883; später Fusion mit der „Liedertafel“). Die Musik blieb ein wichtiger Teil seines Lebens. Das 1885 eröffnete Elisabeth-Krankenhaus ging 1938 – im Zuge der von den Nationalsozialisten erzwungenen Auflösung unabhängiger Vereine – an das Deutsche Rote Kreuz über. Eine dunkle Zeit der Geschichte. 1966 wurde die Elisabeth-Stiftung des Deutschen Roten Kreuzes zu Birkenfeld/Nahe als rechtsfähige Stiftung gegründet; sie führt die Tradition der Fürsorge fort. Der Bahnanschluss von 1880 und das Krankenhaus gehören zu jenen Schritten, die Birkenfeld größer machten, ohne es zu vergrößern. Sie brachten die Moderne in die Kleinstadt, veränderten das Leben der Menschen, ohne die Ordnung zu zerstören.
Nachwort des Urenkels
Wenn ich diesen Beitrag heute lese, lese ich nicht nur Geschichte – ich lese Familie. Aus Akten, Fotos und mündlichen Spuren wurde ein Tag, der atmet: das Klingeln der Bahn am Morgen, der Geruch der Apotheke, das leise Arbeiten des Elisabeth-Krankenhauses und die Stimmen des Turnvereins. Je tiefer ich suchte, desto näher rückte mir der Alltag meines Urgroßvaters Valentin Adolf Herfurth. Seine Prinzipien von Ordnung, Haltung und Gemeinschaftssinn wurden lebendig. Was als Recherche begann, wurde so etwas wie Heimkehr. Nóstos. Ich war vielleicht fünf Jahre alt. Mein Großvater Christoph Herfurth (†1962) nahm mich an die Hand, wir gingen durch Birkenfeld, irgendwo war Marktfest; er kaufte mir einen Luftballon. Auf dem Heimweg hielt ich den Ballon, und er hielt mich. Ich spüre heute noch seine sichere, ruhige Hand – wie ein leiser Halt, der mehr sagt als viele Worte. Wenn ich darüber nachdenke, wird mir klar: Diese Hand, die mich führte, war selbst einmal geführt worden – von seinem Vater, meinem Urgroßvater Valentin Adolf. Es ist eine einfache Linie, und doch trägt sie alles: von einer Hand in die nächste, von einem Tag in den nächsten, von 1885 bis heute. Kein Archivblatt der Welt wiegt so viel wie diese Berührung. Darum ist diese Geschichte für mich mehr als Recherche; sie ist Erinnerung, die weiterreicht. Und ausgerechnet jenes „englische Spiel“, das mein Urgroßvater am Frühstückstisch milde abwinkt, schlägt später in Birkenfeld Wurzeln: 1919 wird der SC Birkenfeld 1919 e. V. gegründet. In den 1960er-Jahren trug ich selbst als Schüler die Farben des Vereins – wir wurden Kreismeister der C-Jugend. Wenn ich daran denke, lächle ich über die sanfte Ironie der Geschichte: Manchmal kommt die Zukunft in Schuhen daher, die man am Morgen noch nicht sehen kann. Die Geschichte geht weiter. Von Hand zu Hand. Von Tag zu Tag.
Wolfgang Herfurth – 2025
