Abentheuer – Ein Dorf mit langer Geschichte im Hunsrück

Ein Name wie ein Versprechen: Abentheuer – geschrieben mit „th“, ausgesprochen wie das, was es bedeutet – klingt nach Geschichten, die es wert sind, erzählt zu werden. Und tatsächlich: Die kleine Hunsrück-Gemeinde am Traunbach mag heute beschaulich wirken, doch sie blickt auf eine bewegte Vergangenheit zurück. Von mittelalterlichen Ursprüngen über eine glanzvolle Industrieära bis hin zur modernen Wohngemeinde: In Abentheuer begegnet Geschichte auf Schritt und Tritt.
Die ersten Spuren: Mittelalterliche Wurzeln und Namensrätsel
Die Wurzeln Abentheuers reichen zurück bis ins 14. Jahrhundert. Erstmals erwähnt wurde der Ort um 1350 – allerdings noch unter dem Namen „Leyen uf der Dronen“, was so viel bedeutet wie „Leyen, an der Traun gelegen“. Gemeint war der südöstliche Teil der heutigen Gemeinde, nahe dem Traunbach. Der eigentliche Ort Abentheuer, damals oft „Abentheuerhütte“ genannt, taucht erst 1580 in den Archiven auf.
Bis ins 18. Jahrhundert führten die beiden Ortsteile unterschiedliche Namen – erst allmählich setzte sich Abentheuer als Bezeichnung für das gesamte Dorf durch. Der Ursprung des Namens bleibt bis heute rätselhaft. Vielleicht leitet er sich vom alten Wort „Abenteuer“ ab, vielleicht von einem Familiennamen. Sicher ist nur: Kein anderer Ort in Deutschland trägt diesen Namen.
Zwischen Sponheim und Pfalz-Zweibrücken: Grenzland mit Geschichte
Abentheuer war nie Zentrum großer Macht – und genau das macht seine Geschichte so spannend. Denn im Laufe der Jahrhunderte war das Dorf ein Grenzort, in dem sich die Besitzverhältnisse immer wieder verschoben. Im Spätmittelalter gehörte das Gebiet zur Hinteren Grafschaft Sponheim, später verlief genau hier eine kirchliche und verwaltungstechnische Grenze: Der Traunbach trennte das Amt Achtelsbach (Pfalz-Zweibrücken) vom Amt Birkenfeld (Sponheim).
Diese Linie bestimmte nicht nur die politische Zugehörigkeit, sondern auch die konfessionelle Prägung. Nach der Reformation wurden die Bewohner entweder lutherisch oder reformiert – je nachdem, auf welcher Bachseite sie lebten. Erst im 19. Jahrhundert vereinte die Protestantische Union die Glaubensrichtungen. Heute gehört Abentheuer zur evangelischen Pfarrei Brücken.
Frankreich, Oldenburg, Preußen: Der Weg in die Moderne
Mit der Französischen Revolution begann auch in Abentheuer eine neue Zeitrechnung. Von 1798 bis 1814 stand das Gebiet unter französischer Verwaltung. Danach wurde es dem neu geschaffenen Fürstentum Birkenfeld zugeschlagen – einer Exklave des Großherzogtums Oldenburg mitten im Hunsrück.
Über ein Jahrhundert lang blieb Abentheuer Teil dieser kuriosen politischen Konstruktion. Erst 1937 ging das Fürstentum im preußischen Kreis Birkenfeld auf. Seit der Gründung von Rheinland-Pfalz im Jahr 1946 gehört Abentheuer zum gleichnamigen Bundesland – und hat sich seinen Charakter als eigenständige Gemeinde bis heute bewahrt.
Die Eisenhütte: Herzstück der frühen Industrie
Kaum ein Ort in der Region ist so stark von der Eisenverarbeitung geprägt wie Abentheuer. Schon 1499 wurde hier eine erste Eisenhütte gegründet – von den Brüdern Hans und Matthäus Eisenschmidt, die aus dem Eifeldorf Eisenschmitt stammten. Die Hütte gilt als älteste nachgewiesene Eisenhütte im Hunsrück.
1696 übernahm der wallonische Unternehmer Remacle de Hauzeur die Anlage, modernisierte sie, errichtete einen neuen Hochofen und ließ das barocke Hüttenherrenhaus bauen, das bis heute erhalten ist. Unter seiner Leitung blühte der Standort auf.
Später übernahm die Industriellenfamilie Stumm das Werk. Sie investierten, bauten aus und machten die Hütte zu einem Zentrum für Gusseisenprodukte. Der Name Friedrich Philipp Stumm, geboren in Abentheuer, steht für die Industrialisierung der Region. 1835 übernahmen die Böckings das Werk – mit einem neuen Schwerpunkt: Rüstungsgüter wie Schrapnelle und Kanonenkugeln.
Doch der Fortschritt ließ sich nicht aufhalten. Die Umstellung auf Kokshochöfen, fehlende Bahnanbindung und Konkurrenz aus dem Saarland führten schließlich zur Stilllegung 1875. Ein fast 400-jähriges Kapitel Industriegeschichte ging zu Ende.
Vom Sägewerk zur spirituellen Kommune: Neue Wege im 20. Jahrhundert
Nach dem Ende der Eisenzeit wurde Abentheuer nicht zur Geisterstadt. Das Gelände der ehemaligen Hujettsägemühle, einst von Wasserkraft betrieben, wurde zur Möbelfabrik. Hier entstanden Eisenbahnschwellen und Parkettböden – bis in die 1960er-Jahre.
Danach wandelte sich das Areal immer wieder: Zunächst kamen Hersteller von Verbundsteinen, später eine therapeutische Einrichtung – und seit 1994 ist hier eine Hare-Krishna-Gemeinde zu Hause. Ausgerechnet in Abentheuer hat sich ein spirituelles Zentrum etabliert – ein Beweis für Offenheit und Wandlungsfähigkeit.
Kriege, Verluste und eine mutige Frau
Auch wenn Abentheuer nie Schauplatz großer Schlachten war, ging die Weltgeschichte nicht spurlos am Ort vorbei. 1797 machte der Räuber Schinderhannes hier Station – und stahl ein Pferd. Eine Anekdote, die zeigt: Selbst abgelegene Dörfer waren Teil der großen Ereignisse.
Tragischer wird es im 20. Jahrhundert. Der Erste Weltkrieg forderte Opfer, der Nationalsozialismus brachte Leid. Besonders erschütternd ist das Schicksal von Helene Kahn, geborene Marx: 1864 in Abentheuer geboren, floh sie 1933 vor den Nazis nach Frankreich – doch wurde 1942 nach Auschwitz deportiert und ermordet. Sie war das einzige Holocaust-Opfer jüdischen Glaubens aus Abentheuer.
Abentheuerer Köpfe: Vom Industriellen bis zum Politiker
Trotz seiner überschaubaren Größe brachte Abentheuer Persönlichkeiten hervor, die Spuren hinterließen. Neben der Familie Stumm zählt dazu auch Eduard Sigismund Böcking, ein weiterer Montanunternehmer mit Wurzeln im Dorf.
Ein anderer Name ist historisch belastet: Otto Braß, geboren 1887 in Abentheuer, wurde Politiker – und saß für die NSDAP im Reichstag. Seine Vita ist ein dunkles Kapitel, das dennoch zur Geschichte des Orts gehört.
Heute: Ruhe, Natur und Zusammenhalt
Heute ist Abentheuer eine idyllische Wohngemeinde mit knapp 420 Einwohnern (Stand 2023). Die Zeiten von Hochöfen und Möbelfabriken sind vorbei – geblieben sind die Wälder, die Ruhe und ein starkes Gemeinschaftsgefühl. Mehr als 50 Kilometer Wanderwege führen rund um das Dorf, das offiziell als staatlich anerkannter Erholungsort gilt.
Seit 2015 gehört Abentheuer zur Nationalparkgemeinde Hunsrück-Hochwald. Die Einwohner pendeln in die umliegenden Städte, engagieren sich in Vereinen, feiern Feste – und bewahren dabei ihre Geschichte.
Das barocke Hüttenherrenhaus wird restauriert, das Andenken an Helene Kahn wachgehalten. Und auch die ungewöhnliche Mischung aus christlichen Traditionen und Hare-Krishna-Spiritualität zeigt: Abentheuer bleibt sich selbst treu – neugierig, offen und voller Geschichten.
Fazit: Abentheuer ist mehr als ein ungewöhnlicher Ortsname. Es ist ein Stück gelebter Geschichte mitten im Hunsrück – geprägt von Wandel, Widerstandskraft und einer beeindruckenden Fähigkeit zur Erneuerung. Ein Dorf, das seinen Weg gegangen ist. Und ihn weitergeht.
Wolfgang Herfurth