
Zwischen Juli und November 1919 erklärte sich Birkenfeld
für wenige Monate zur
„Republik im Verband des Deutschen Reiches“.
Ein lokaler Versuch, Ordnung, Versorgung und Selbstbestimmung in die eigene Hand zu nehmen – geduldet von der Besatzungsmacht, kritisch gesehen in Idar und Oberstein, und am Ende demokratisch abgewählt. Dieser Beitrag erzählt das belegte Geschehen und verbindet es mit „so hätte es gewesen sein können“-Szenen aus der Perspektive dreier Generationen der Familie Herfurth: Adolf (Gymnasiallehrer, 71), Christoph (Bahnamtmann) und Wolfgang (Enkel und Autor). Fiktionale Passagen sind klar gekennzeichnet und bleiben eng am Rahmen der belegten Tatsachen.
Vorwort des Verfassers
Meine Familie hat die vier Monate der „Republik Birkenfeld“ aus drei Blickwinkeln erlebt:
– Adolf Herfurth, mein Urgroßvater (71 Jahre im Jahr 1919), Gymnasiallehrer in Birkenfeld, langjähriger Vorsitzender des TV Birkenfeld, später Ehrenvorsitzender.
– Christoph Herfurth, mein Großvater, Amtmann bei der Eisenbahn (u. a. im Raum Saarbrücken).
– Ich selbst, der Enkel, der heute die Geschichte schreibt – mit Respekt vor den Quellen und mit kleinen literarischen Brücken, wo die Akte schweigt.
Schauplatz und Ausgangslage (Fakten)
5. Dezember 1918: Einquartierung eines französischen Repräsentanten und einer Kompanie in Birkenfeld; Quartier im Regierungsgebäude.
Sommer 1919: Der Versailler Vertrag ist unterzeichnet; überall im Rheinland kursieren Entwürfe von Autonomie bis Separatismus. Die Nahetalbahn ist Versorgungsader für Kohle, Mehl, Salz und Güter der Edelsteinindustrie. Birkenfeld ist eine oldenburgische Exklave im preußischen Umfeld – eine politische Insel mit Garnison.
Regierungsgebäude (Schloss Birkenfeld, heute Kreisverwaltung )“

Vorgeschichte: Unruhe im Rheinland (Fakten)
1919 ist ein Jahr der Übergänge: Die Weimarer Reichsverfassung steht vor dem Inkrafttreten, und am Rhein werden Modelle von Autonomie bis zur „Rheinischen Republik“ diskutiert. In Birkenfeld verdichten sich zwei Motive:
– Furcht, verhandelt zu werden: Gerüchte über einen Gebietstausch Oldenburg–Preußen (Birkenfeld gegen Aurich) nähren das Gefühl, Objekt fremder Absprachen zu sein.
– Selbstverwaltung vor Ort: Entscheidungen sollen in Birkenfeld fallen – im Verband des Deutschen Reiches, nicht als Anschluss an Frankreich.
Sachkasten A – Was hieß „Republik im Verband des Deutschen Reiches“?
Gemeint war eine lokale Eigenständigkeit in Verwaltung und Ordnung, ohne Loslösung vom Reich. Beamte sollten im Dienst bleiben, die Besatzung sollte nicht provoziert, sondern informiert werden.
Juli 1919: Die Proklamation (Fakten)
Am 14. Juli 1919 proklamieren Otto Baltes (Auktionator), Rudolf Schmeyer (Feldspatgruben-Eigentümer) und Mitstreiter auf der Freitreppe des oldenburgischen Regierungsgebäudes die „Republik Birkenfeld im Verband des Deutschen Reiches“. Konrad Hartong, Oberamtsrichter, bleibt als kommissarischer Regierungspräsident im Amt und führt – auf Wunsch der französischen Seite – die laufenden Geschäfte fort.
Am 15. Juli meldet das Hauptquartier der X. Französischen Armee per Chiffretelegramm nach oben: provisorische Regierung gebildet, Lage ruhig, Beamte im Dienst.

KI-Rekonstruktion (Illustration): Französische Besatzungssoldaten vor dem Geschäft „Louis Presser“, Römer/Obere Straße, Birkenfeld, ca. 1919.
Grundlage: historisches Foto einer Bürgerwehr-Parade (ca. 1860–1870). Montage zu Illustrationszwecken, kein Originalfoto von 1919.
Ziele und Widerstände (Fakten)
Ziele: Versorgung sichern, Wucher eindämmen, Preise transparent machen, Ordnung schaffen – und die Zukunft vor Ort entscheiden.
Hebel: Ausschüsse (Versorgung, Ordnung, Finanzen, Nachricht), Bekanntmachungen, Preislisten, offene Rechenschaft.
Widerstände:
– Legitimation: Baltes führt Zustimmung aus 46 von 87 Gemeinden an; Prüfungen vermerken fehlende Unterschriften aus 54 Gemeinden, besonders Idar und Oberstein.
– Wirtschaft: In den urbanen Zentren überwiegt die Sorge vor Zollgrenzen und Absatzproblemen (Edelsteinindustrie, Pendler).
– Recht: Die Weimarer Verfassung (ab 14. August) sieht Volksabstimmungen vor, doch zentrale Abschnitte sind vorerst ausgesetzt – ein schneller, rechtssicherer Weg fehlt.
– Besatzung: Wohlwollende Duldung unten (Major Tibère Bastiani), Bremse oben (Mainz/Paris).
Alltag der kurzen Republik: Zettel, Glocke, Ausgabe (Fakten und Szene)
Fakten: Bekanntmachungen regeln Preise und Ausgabestunden; die alte Verwaltung arbeitet weiter; die Kommandantur fordert Ruhe (Zapfenstreich), duldet aber den lokalen Ordnungsversuch.
„So hätte es gewesen sein können“ – Szene 1 (fiktional, plausibel):
Im Lehrerzimmer riecht es nach Kreide und Kohle. Adolf Herfurth (71), Gymnasiallehrer und langjähriger Vorsitzender des TV Birkenfeld, schreibt die Sprechstunden der Ausschüsse an die Tafel. „Ordnung ist gut“, sagt er zu einem Kollegen, „aber sie will getragen sein.“
Am Schreibtisch in Saarbrücken prüft Christoph Herfurth, Bahnamtmann, Frachtpapiere: Kohle für Neunkirchen, Mehl für Idar-Oberstein. Ein Zettel liegt obenauf: „Bevorzugte Abfertigung für Lebensmitteltransporte – Birkenfeld meldet Engpass.“ Christoph stempelt, telefoniert, schiebt Wagen im Umlauf. Sein stiller Schluss: Was die Republik per Zettel verspricht, muss die Bahn mit Rädern halten.

Symbolbild „Nahetalbahn
Idar und Oberstein: Das fehlende „Ja“ (Fakten und Szene)
Fakten: In Idar und Oberstein bleibt die Zustimmung aus. Betriebs- und Handelsinteressen sehen Risiken: Rohstoffe und Absatz hängen am freien Verkehr; ein künftiger Zollschnitt Richtung Saargebiet würde schmerzen.
„So hätte es gewesen sein können“ – Szene 2 (fiktional, plausibel):
Ein Obersteiner Händler liest die Preisbekanntmachung und rechnet: Löhne, Schleifstaub, Rohware, Versandkisten. „Wenn hier Zoll steht, steht hier bald alles“, sagt er. Er steckt den Zettel ein – als Beleg, nicht als Befehl.
Recht und Kalender: Warum der Königsweg versperrt war (Fakten)
August 1919: Weimar tritt in Kraft. Artikel 18 sieht Neugliederung mit Volksabstimmung und hohen Quoren vor.
Aber: Die dafür nötigen Abschnitte sind übergangsweise ausgesetzt; Ausführungsbestimmungen folgen später.
Folge: 1919 gibt es keinen schnellen, sauberen Plebiszit-Weg, um die „Republik Birkenfeld“ rechtlich abzustützen.
Sachkasten B – Begriffe knapp erklärt
Neugliederung: Änderung von Ländergrenzen/Status.
Quoren: Hohe Zustimmungs- und Beteiligungsschwellen.
Suspension: Teile der neuen Ordnung gelten erst nach Übergangszeit.
Französische Ebene: Duldung unten, Bremse oben (Fakten)
Major Tibère Bastiani hält die Lage ruhig, erkennt die Provisorische Regierung als Ansprechpartner an, lässt gleichzeitig Hartong die Amtsgeschäfte fortführen. Höhere Ebenen betrachten lokale Experimente mit Skepsis: Sicherheit ja, aber keine Zersplitterung in unklare Kleinstaaten.
Reibungen im Kleinen: Versorgung, Reihenfolge, Streit (Fakten und Szene)
Fakten: Wer steht zuerst an? Familienväter? Verwundete? Alte? Händler nennen Wucher, wenn Preise sinken; Käufer nennen Wucher, wenn sie steigen. Die Ausschüsse werden Schlichtungsstellen – und damit Angriffsflächen.
„So hätte es gewesen sein können“ – Szene 3 (fiktional, plausibel):
Adolf steht am Rand der Ausgabe. „Wir brauchen drei Linien“, sagt er ruhig, „Kinder zuerst, dann die Alten, dann die übrigen Haushalte.“ Ein junger Mann murrt. „Wer entscheidet das?“ – „Wir alle“, antwortet Adolf, „aber einer muss es hinschreiben.“
Der Kipppunkt: Öffentlichkeit entscheidet (Fakten und Szene)
Ende Oktober 1919 kommt der Maßstab, den niemand übergehen kann: Neuwahlen zur Landesvertretung. Die Träger der „Republik Birkenfeld“ verlieren klar, die Regierung Zöller tritt zurück.
Am 7. November 1919 wählt die Landesvertretung Walther Dörr (Idar) einstimmig zum Regierungspräsidenten. Das Experiment hat damit keine politische Basis mehr – Ende nach vier Monaten.
„So hätte es gewesen sein können“ – Szene 4 (fiktional, plausibel):
Auf dem Römer ist es voll, aber nicht laut. Christoph kommt spät von der Dienststelle. „Wie ist es ausgegangen?“, fragt er Adolf. – „Gezählt“, sagt dieser. „Und entschieden.“
Nachwirkungen 1920–1930 (Fakten)
1920: Das Saargebiet geht unter Völkerbundsmandat in eine Sonderverwaltung mit Frankreich.
1923: Separatismuskrise im Rheinland; Walther Dörr wird zeitweise ausgewiesen, kehrt 1924 zurück.
1930: Abzug der französischen Truppen.
Bilanz: Birkenfeld 1919 wird zum Präzedenzfall: Ohne breites Mandat, rechtliche Brücke und tragfähige Ökonomie hält eine lokale Neugründung nicht.
Drei Stimmen – ein Band (fiktional, plausibel)
Adolf (Lehrer, 71): „Worte tragen nur, wenn Rücken dahinter stehen.“
Christoph (Bahnamtmann): „Zettel sind gut. Züge sind besser.“
Wolfgang (Enkel, Autor): „Zwischen Treppe und Urne lagen vier Monate – und eine Lektion über Mehrheit, Recht und Alltag.“
Zeitleiste (Fakten, kompakt)
05.12.1918: Französische Einquartierung im Regierungsgebäude (Beginn der Besatzungszeit vor Ort).
14.07.1919: Proklamation der „Republik Birkenfeld“ auf der Treppe des Regierungsgebäudes.
15.07.1919: Chiffretelegramm der X. Armee: Provisorische Regierung, ruhige Lage, Beamte im Dienst.
14.08.1919: Weimarer Verfassung tritt in Kraft; Neugliederungsweg praktisch noch nicht anwendbar.
Ende Okt 1919: Neuwahlen; Niederlage der Autonomiegruppe; Rücktritt der Regierung Zöller.
07.11.1919: Walther Dörr wird Regierungspräsident – faktisches Ende des Experiments.
1923/24: Separatismuskrise; Dörr ausgewiesen, später Rückkehr.
1930: Truppenabzug.
Akteure (Kurzporträts, Fakten)
Otto Baltes – Auktionator; politischer Kopf der Proklamation.
Rudolf Schmeyer – Unternehmer (Feldspatgruben); Mitinitiator.
Konrad Hartong – Oberamtsrichter; kommissarischer Regierungspräsident; hält Verwaltung in Gang.
Tibère Bastiani – französischer Militärverwalter; pragmatisch-duldend auf lokaler Ebene.
Walther Dörr – Jurist aus Idar; ab 7.11.1919 Regierungspräsident; steht für den demokratischen Schlusspunkt.
Quellen- und Transparenzhinweis
Otmar Seul: „Die Birkenfelder Republik 1919“ (mit französischen Akten inkl. Chiffre vom 15.07.1919; Akteurslisten; Kontext).
Weimarer Reichsverfassung (Inkrafttreten 14.08.1919), Neugliederungsartikel mit Übergangsregeln.
Zeitgenössische Verwaltungspapiere und Presse zur Neuwahl Ende Okt. 1919 sowie zur Wahl Walther Dörr am 07.11.1919; Hinweise zu 1923/24 (Ausweisung/ Rückkehr).
Nahetalbahn als regionale Infrastruktur seit dem 19. Jahrhundert; allgemeine Lage 1919 (Kohle, Wagenmangel, Prioritätenordnung).
Familienbezug Herfurth: Angaben zu Adolf (Gymnasiallehrer, TV Birkenfeld, Ehrenvorsitzender) und Christoph (Bahnamtmann) stammen aus dem Familienkontext des Autors. Alle Szenen mit Adolf/Christoph sind fiktionale Annäherungen, die die belegte Lage veranschaulichen, ohne eigene historische Tatsachen zu behaupten.
Schluss
Die „Republik Birkenfeld“ war kein Gruselmärchen und kein Heldenepos, sondern der ernsthafte Versuch, Verantwortung lokal zu bündeln – und die klare Lehre, dass Mehrheit, Recht und Alltag zusammengehören. Vier Monate Ordnung per Zettel reichten nicht gegen die Urne. Aber sie haben Spuren hinterlassen: Selbstbehauptung ja – nur auf einem tragfähigen Fundament.
Wolfgang Herfurth – August 2025