Ein Städtchen kämpft um den Anschluss

Stellen wir uns Birkenfeld im Herbst 1879 vor: ein kleines Residenzstädtchen, damals noch oldenburgische Exklave, malerisch auf einer Anhöhe über dem Nahetal gelegen – aber abgeschnitten von der weiten Welt. Zwar donnern seit 1860 die Loks der Rhein‑Nahe‑Bahn durch das Tal, bleiben jedoch im Bahnhof Neubrücke stehen; die fünf Kilometer hinauf nach Birkenfeld muss man zu Fuß oder mit Pferd und Wagen überwinden.

Bürgermeister Johann Eissel spürt die Sorge seiner Bürger: Ohne Bahn verliert Birkenfeld Handel, Arbeitsplätze, vielleicht sogar Einwohner. Also zieht er von Amt zu Amt, von Oldenburg nach Berlin und zurück, verhandelt, überzeugt, bittet – und setzt schließlich einen Staatsvertrag zwischen Oldenburg und Preußen durch. Am 2. Dezember 1879 liegt die lang ersehnte Konzession auf seinem Schreibtisch.

Nur zehn Monate später, am 15. Oktober 1880, schnaubt die erste Dampflok die Rampe hinauf: 5,3 Kilometer Normalspur, maximal 25 Promille Steigung, frisch gelegte Stahlschienen, Joche aus Eichenholz. Ein zweigleisiger Kopfbahnhof entsteht mitten in der Stadt. Der Jubel ist groß, die Lok wird mit Tannengrün geschmückt, und die Lokalzeitung feiert das „Dampfrössel“.


 Die ersten Jahrzehnte (1880 – 1933): Alltag auf fünf Kilometern

Die Strecke heißt offiziell „Birkenfelder Zweigbahn“, im Volksmund „Bähnche“. Schon bald pendeln täglich zwei bis drei gemischte Züge – vorne Güterwagen, hinten ein Personenwagen der 3. Klasse.

  • Güter, die rollen: Holzstämme aus dem Hunsrück, Steine und Feldspat aus umliegenden Brüchen, Getreide und Vieh.
  • Menschen unterwegs: Handwerker, Marktfrauen, Schulkinder – und nicht zuletzt Soldaten, denn das Garnisonstädtchen Idar‑Oberstein liegt in Reichweite.
  • Technik: Preußische Tenderloks der Reihe T 3 dampfen zuverlässig; in den Wagons zieht der Geruch von Kohleschaufeln und Schmieröl ein.

Der kleine Bahnhof wird zum wirtschaftlichen Dreh‑ und Angelpunkt: Spediteure siedeln sich an, Sägewerk und Maschinenfabrik richten Gleisanschlüsse ein, und in Brücken entsteht bald eine Holzverkohlungsanlage von Degussa – ein erster Schritt in die Chemieindustrie.


Krise, Rettung und Blüte (1933 – 1945)

Als die Reichsbahn 1932 ankündigt, den Betrieb mangels Rentabilität einzustellen, steht Birkenfeld vor dem Schock. Doch ein neuer Bürgermeister, Eugen Ruppenthal, weigert sich aufzugeben. Er findet einen starken Partner in Degussa, und gemeinsam gründen Stadt (72 %) und Chemiekonzern (28 %) die Birkenfelder Lokalbahn GmbH. Zum 16. Januar 1933 übernimmt sie den Eigenbetrieb – eine Sensation in der Reichsbahn‑Ära!

Die Lokalbahn denkt modern:

  • Zwei frisch aufbereitete T 3‑Loks erhalten Druckluftbremsen.
  • Ein Wismarer Schienenbus (zwei Achsen, 41 Sitzplätze) bringt Tempo in den Pendelverkehr.
  • Der Fahrplan wächst auf bis zu elf Personenzugpaare täglich – für eine Fünf‑Kilometer‑Strecke ein Rekord.

Birkenfeld erlebt eine zweite Blüte. Ausflügler fahren zum Wochenmarkt, Schüler kommen pünktlich, und Güterzüge rollen Tag und Nacht. Der Bahnhof ist Treffpunkt, Umschlagplatz – und ein bisschen Tor zur großen, weiten Welt.


 Nachkrieg und Kalter Krieg (1945 – 1962): Neue Aufgaben, neuer Name

Im Chaos der Nachkriegszeit stockt der Verkehr zunächst, doch bald gibt es wieder Bedarf:

  • Die US‑Armee errichtet im nahen Hoppstädten‑Weiersbach Wohnsiedlungen. Baumaterial, Kohle, Lebensmittel – alles kommt per Bahn.
  • Die Lokalbahn wird 1948 in „Birkenfelder Eisenbahn GmbH“ umbenannt, bleibt aber städtisch dominiert.
  • 1950 starten Montagezüge zum Truppenübungsplatz Baumholder: Panzerteile, Munitionskisten, Zivilangestellte.

Ein spektakuläres Kapitel schreibt der Plan eines Uranerz‑Aufbereitungswerks („Gewerkschaft Brunhilde“) bei Ellweiler: Ab 1955 werden Gleisanschlüsse gebaut, Spezialwagen bestellt, Gebäude errichtet – doch das Projekt scheitert, bevor der erste Sack Yellow Cake verladen wird. Die Bahn behält immerhin ihre Verladerampen.

Zur gleichen Zeit beginnt das Wirtschaftswunder: Busse und Autos erobern die Straße. 1955 richtet die Birkenfelder Eisenbahn einen eigenen Omnibusdienst ein, doch er sägt am Ast der Personenzüge. Am 31. Dezember 1962 heißt es endgültig: letzter planmäßiger Personenzug.


Die Güterbahn (1963 – 1991): Eine Lok, ein Wagen, ein langer Atem

Jetzt gehört die Strecke allein dem Güterverkehr. 1956 hat man bei Jung‑Jungenthal in Kirchen eine fabrikneue Diesellok bestellt: Typ R 42 C, 220 PS, 32 Tonnen schwer. Die Belegschaft tauft sie liebevoll „Emma“. Jahrzehntelang hört man ihr tiefes Grollen, wenn sie morgens von Neubrücke nach Birkenfeld aufbricht – oft nur mit einem einzigen Wagen.

  • Holz, Kohle, Container mit Industrievormaterial – das ist der verbliebene Alltag.
  • 1969 steigt Degussa aus, die Stadt Birkenfeld übernimmt 100 % der GmbH‑Anteile.
  • Fahrplan? Flexibel! „Emma“ fährt, wenn Ladung da ist – manchmal drei Mal pro Woche, manchmal drei Wochen gar nicht.

Trotz aller Sparsamkeit schreiben die Bücher rote Zahlen. Man klammert sich an jede Tonne Fracht, bietet Nostalgiefahrten an, hofft auf neue Gewerbeansiedlungen – doch die Konkurrenz der LKW ist längst zu groß.


 Abschied von der Schiene (1991 – 1994)

Am Morgen des 30. September 1991 zuckt „Emma“ mit drei gedeckten Wagen nach Birkenfeld hinauf – der letzte Güterzug der Strecke. Ein paar Eisenbahnfreunde und städtische Bedienstete stehen am Bahndamm und winken. Manche haben Tränen in den Augen; andere zücken die Kamera.

Es folgen:

  • 31. Dezember 1994 – amtliche Stilllegung der Strecke.
  • Frühjahr 1995 – Rückbau der Gleise, Schwellen und Signale.
  • 27. Januar 2011 – die Gesellschafterversammlung mit Hans Jürgen Noss (Dipl.‑Verwaltungswirt, MdL) beschließt die Liquidation der Birkenfelder Eisenbahn GmbH. Das Kapitel Betriebsgesellschaft endet, die Erinnerungen bleiben.

Vom Bahndamm zum Rad‑ und Wanderweg (seit 1996)

Statt Brache und Dornengestrüpp entsteht auf dem frei gewordenen Damm ein asphaltierter Rad‑ und Fußweg – ein damals visionäres Konzept für den ländlichen Raum. Heute rollt man nahezu steigungsfrei von Birkenfeld nach Neubrücke, schaut links in i d yllische Wiesen, rechts auf Spuren alter Laderampen. An der Birkenfelder Einfahrt thront „Emma“ frisch lackiert als technisches Denkmal: Loklaternen blinken manchmal zu Festtagen, Kinder klettern auf den Puffer, Großväter erzählen vom Pfeifen der Dampflok.

Der Weg ist inzwischen Teil der Nahe‑Hunsrück‑Mittelalter‑Route und zieht jedes Jahr Tausende Radwanderer an. Cafés, Ferienwohnungen und Fahrrad‑Servicepunkte haben sich etabliert – eine neue Wirtschaftskraft auf alten Gleisen.


Persönlichkeiten – die Gesichter der Bahn

NameBeitrag
Johann Eisselerwirkte 1879 die Konzession, leitete den Bau; Visionär des Bahnanschlusses
Eugen RuppenthalBürgermeister 1923‑33 & 1949‑53; Retter der Strecke 1933, Mitgründer der Lokalbahn GmbH
Hans Jürgen NossStadt‑ und Landespolitiker; begleitete den geordneten Rückzug, 2011
Lok „Emma“technische Heldin: Jung R 42 C, 1956‑1991 einzige Zugmaschine, heute Denkmal
Die Bürger Birkenfeldsvon 1880 bis heute Herz und Stimme der Bahn – als Fahrgäste, Arbeiter, Retter, Radfahrer

Was bleibt?

  • Wirtschaftliche Spuren: Ohne die Bahn kein Degussa‑Werk, keine Holz‑ und Feldspatexporte, kein Aufschwung zwischen 1880 und 1960.
  • Sozialer Aufstieg: Preiswerte 4.‑Klasse‑Tickets ab 1922 machten Bildung und Arbeit fern der Heimat erreichbar.
  • Geostrategische Kapitel: US‑Militärversorgung, Uran‑Pläne – auch große Weltpolitik fuhr auf kleinen Gleisen.
  • Kulturerbe: Der Radweg, die Denkmal‑Lok, Erlebnisführungen, Zeitzeugenberichte und Archive halten Erinnerung und Identität wach.

Birkenfeld hat es geschafft, aus dem Ende einer Ära den Anfang einer neuen zu machen. Wer heute gemütlich vom Bahnhof Neubrücke in die Pedale tritt, rollt durch 145 Jahre Geschichte – man hört vielleicht kein Dampflokpfeifen mehr, aber der Wind erzählt leise davon. Und wenn man vor „Emma“ zum Halten kommt, lohnt es sich, einen Moment zuzuhören.

Wolfgang Herfurth – Juni 2025

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