Ausgelöscht, aber nicht vergessen: Die jüdische Gemeinde von Birkenfeld und Hoppstädten-Weiersbach – Geschichte, Mahnung, Verpflichtung

„Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Das ist der Kern dessen, was wir zu sagen haben.“
Primo Levi, Auschwitz-Überlebender

Birkenfeld, Hoppstädten-Weiersbach – zwei Orte an der Nahe, an denen jüdisches Leben Jahrhunderte lang Alltag war.
Bis es verschwand. Ausradiert. Verbrannt. Deportiert. Und doch: Die Spuren sind da. Und wer hinsieht, erkennt nicht nur Namen auf Grabsteinen oder Stolpersteinen – sondern Menschen, Nachbarn, Kinder.

Die Geschichte der jüdischen Gemeinden in diesen Orten ist kein Kapitel aus fernen Zeiten – sie ist Mahnung im Hier und Jetzt.
Geboren in Birkenfeld, aufgewachsen zwischen Schlossallee und Marktplatz, ist dieses Erinnern keine akademische Übung.
Es ist persönlich. Schmerzlich. Wütend. Und notwendig – denn 2025 bedeutet jüdisch sein in Deutschland wieder Gefahr.
Gefahr durch rechte Hetzer, linke Ideologen, religiöse Fanatiker, die nie angekommen sind – aber ihren Hass mitgebracht haben.
Das neue Deutschland? Ein Rückfall in alte Muster. Und deshalb ist dieser Beitrag nicht nur Rückschau, sondern Widerstand.


Anfänge jüdischen Lebens in Hoppstädten und Birkenfeld

1670: Erste Erwähnung eines jüdischen Bewohners in Hoppstädten – Jud Lazarus.
Um 1700: Etwa zehn jüdische Einwohner. Schutz durch lokale Herrschaften, gegen hohe Zahlungen.
Birkenfeld: Jüdische Ansiedlung bis 1800 streng untersagt. Nur als Händler mit Geleitschein zu den Viehmärkten zugelassen – allein 1780 fanden 22 statt.

Viele siedelten sich daher in Hoppstädten an, wenige Kilometer entfernt.
Ab 1808 trugen Lazarus’ Nachkommen den Familiennamen Stern.


Gemeindeaufbau und Blütezeit im 19. Jahrhundert

1836: Bau der Synagoge Hoppstädten – zweigeschossig, mit Frauenempore, Wohnung für den Landesrabbiner.
Finanzierung: 500 Gulden vom Großherzogtum Oldenburg plus Holz, Rest durch Spenden.

Birkenfeld:

  • Erste Ansiedlung während der französischen Besatzung ab ca. 1798
  • Provisorischer Betraum ab den 1830er-Jahren
  • 1862/63: Bau der Synagoge an der Schlossallee
  • 1923: Offizielle Unabhängigkeit als eigenständige jüdische Gemeinde

Jüdische Friedhöfe:

  • Hoppstädten: ab 18. Jahrhundert, mehrfach erweitert
  • Birkenfeld: ab ca. 1895 (ältester Grabstein datiert auf dieses Jahr)

Religiöses und soziales Leben

Landesrabbinat Hoppstädten (1835–1938):
Rabbiner: u.a. Dr. David Einhorn, Dr. Julius Lewit, Dr. Alexander Lewin

Jüdische Schule Hoppstädten:

  • ab ca. 1850
  • 1884 eigenes Schulgebäude
  • 1908 staatlich anerkannte Privatschule
  • Mitte 1920er geschlossen

Birkenfeld:
Lehrer Moses Eisenkrämer (1880er–1919) – Religionsunterricht, Vorbeter, Schächter, Heiratsvermittler


Wirtschaft und Integration

Juden waren tief in das lokale Wirtschaftsleben integriert:
Viehhändler, Metzger, Textil- und Lederwarenhändler, Kaufhaus Loeb in Birkenfeld

Teilnahme am öffentlichen Leben – auch als Soldaten im Ersten Weltkrieg.
Rabbiner Dr. Lewin: 1915 im Krieg verwundet.


Bevölkerungsentwicklung

Hoppstädten-Weiersbach:

  • 1670: 1 Familie (~5 Personen)
  • 1781: 7 Familien (~30 Personen)
  • 1846: 181 Personen (~25 %)
  • 1871: 212 Personen
  • 1900: 124 Personen
  • 1933: 66 Personen
  • 1942: 0 Personen

Birkenfeld (Nahe):

  • 1808: 11 Personen
  • 1871: ca. 200 Personen
  • 1900: 76 Personen
  • 1933: 37 Personen
  • 1938: 11 Personen
  • 1942: 0 Personen

1933–1945: Verfolgung und Auslöschung

März 1933: SA-Verhaftungen, Misshandlungen jüdischer Bürger in Birkenfeld
April 1933: Boykott jüdischer Geschäfte

Reichspogromnacht 9./10. November 1938:

  • Hoppstädten: Häuser gestürmt, Synagoge verwüstet
  • Landesrabbiner Dr. Lewin mit Rauchbomben ausgeräuchert, in KZ Dachau verschleppt, später ausgebürgert – 1942 in Auschwitz ermordet
  • Birkenfeld: Synagoge bereits baufällig, geplündert, Frühjahr 1939 abgerissen

Schwestern Rosa und Ida Schiffmann

  • Rosa Schiffmann stirbt auf dem Transport in den Osten
  • Ida Schiffmann wird deportiert, gilt als verschollen, wahrscheinlich ermordet

Stolpersteine in Birkenfeld erinnern an ihr Schicksal.


Familie Stern

  • Siebenköpfige Familie aus Hoppstädten
  • deportiert, keiner überlebt
  • heute durch Stolpersteine dokumentiert

Zerstörung jüdischer Zeugnisse

  • Winter 1938/39: Friedhof Hoppstädten – 170 Grabsteine umgestürzt, teils als Baumaterial verkauft
  • Birkenfeld: „Entjudung“ 1939 abgeschlossen – Synagoge abgerissen, Geschäfte und Immobilien enteignet, Kultgegenstände vernichtet

Nach 1945 – Erinnerung ohne Rückkehr

Kein Jude kehrte zurück.
Aber das Erinnern begann.

  • Französische Militärregierung verpflichtet Hoppstädten zur Wiederherstellung des Friedhofs
  • NSDAP-Mitglieder mussten Grabsteine zurückholen
  • Die Synagoge Hoppstädten überstand die Zeit – heute Wohnhaus

Frühe Gedenkinitiativen

1960er-Jahre: Erste Gedenkveranstaltungen in Birkenfeld – lokal, leise, aber bedeutend
1988: Zum 50. Jahrestag der Pogromnacht wird an der Schlossallee eine Gedenktafel installiert:

„Zum Gedenken und zur Mahnung. Hier stand von 1862 bis zu den Jahren des Naziterrors die Synagoge der jüdischen Mitbürger der Stadt Birkenfeld – 9. November 1938 / 1988.“


Stolpersteine und Erinnerungskultur heute

  • 2017/18: Familie Stern (Hoppstädten)
  • 2017: Rosa und Ida Schiffmann (Birkenfeld)
  • 2022: Familie Senator (Birkenfeld, Achtstraße 9)

Schulprojekte, Stadtführungen, Gedenkveranstaltungen am 27. Januar, geplant: Jüdischer Gedenkpfad Hoppstädten-Weiersbach mit Infostationen & Audioguides


Fazit – Persönlich, unbequem ehrlich

„Je tiefer ich eintauche in die Geschichte der jüdischen Gemeinden von Birkenfeld und Hoppstädten-Weiersbach, desto mehr Fragen bleiben offen.
Verstehen? Niemals. Verurteilen? Schwierig.
Ich bin 1954 geboren, heute 71. Ich habe nichts erlebt. Doch ich frage mich: Hätten wir Mut gehabt? Oder aus Angst geschwiegen?

Und heute?
Ich sehe junge Deutsche, die mit Palästinensern marschieren, „Nieder mit Israel“ und „Tötet Juden“ rufen. Ich habe es gesehen. Live.
Das macht mir Angst. Und es macht mich wütend.

Es sind Linke, Grüne, SPD-nahe Gruppen, die eskalieren. Rechte Hetzer gibt es – aber die Gewalt, die sehen wir aktuell auf der Straße von links.
Und sie bleibt unbestraft.

Ich werde nicht schweigen.
Nicht jetzt. Nicht morgen. Und ich sage es klar:
Die Juden gehören zu Deutschland.
Wem das nicht passt, soll gehen. Oder gar nicht erst kommen.“

Wolfgang Herfurth – April 2025

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