Die Turnerinnen von Birkenfeld – ein Bild zwischen Aufbruch und Anpassung

Ein Schwarz-Weiß-Foto. Aufgenommen in der Jahn-Turnhalle des Turnvereins Birkenfeld an der Nahe – irgendwann zwischen 1926 und 1937. Drei Reihen junger Frauen, aufrecht stehend, in schlichter Turnkleidung. Die Gesichter entschlossen, ernst, manche mit einem angedeuteten Lächeln. Der Moment wirkt unscheinbar, doch das Bild erzählt von mehr als Gymnastik und Haltung. Es erzählt von einer Zeit des Umbruchs – und davon, wie Frauen sich darin ihren Raum schufen.

Zwischen Tradition und Neubeginn

Birkenfeld, eine Kleinstadt an der Nahe, war zu jener Zeit keine Bühne der Weltgeschichte. Und doch spiegelten sich auch hier die Bewegungen der Weimarer Republik: Frauen ergriffen Berufe, gründeten Familien, wagten neue Wege. Die Turnerinnen auf dem Bild könnten Lehrerinnen, Verkäuferinnen, Näherinnen oder Buchhändlerinnen gewesen sein – manche ledig, andere verheiratet, mit Kindern, mit Verantwortung.

Im Turnverein aber verschwanden diese Unterschiede. Hier war man einfach „Turnerin“. Die Jahn-Turnhalle wurde zum Ort der Selbstbestimmung: körperlich, sozial, geistig. Wer hier die Schuhe schnürte, kam nicht nur zum Schwitzen, sondern auch zum Aufatmen.

Ein Raum der Freiheit

Die Kleidung war Symbol und Werkzeug zugleich: knielange Hosen, lockere Blusen – keine Korsetts, keine steifen Röcke. Diese einfache, funktionale Turntracht unterschied sich deutlich von der Mode des Alltags. Sie stand für Bewegungsfreiheit, für Gleichheit, für eine neue Körperlichkeit, die Frauen selbstbestimmt leben wollten.

Beim Bodenturnen, an den Ringen, im Takt der Gruppenübungen wuchs Selbstvertrauen. Die Turnstunde war nicht nur Training – sie war Gemeinschaft. Und Gemeinschaft bedeutete: gesehen werden, ernst genommen werden, stark sein dürfen.

Ein kurzer Frühling

Die 1920er Jahre waren ein kurzer Frühling der Freiheit – auch in Birkenfeld. Frauen durften wählen, studieren, arbeiten. Auch im Verein spiegelte sich dieser Wandel. Die Turnerinnen trugen nicht nur neue Kleidung, sie trugen auch ein neues Selbstverständnis.

Doch mit dem Jahr 1933 kam die Wende. Die neue politische Ordnung machte auch vor der Turnhalle nicht halt. Vereine wurden gleichgeschaltet, Sport ideologisch aufgeladen. Frauen sollten nun „dem Volkskörper dienen“ – nicht sich selbst. Individualität wich Disziplin, Vielfalt wurde zur Pflicht-Gemeinschaft.

Manche Turnerinnen verschwanden aus dem Bild – aus politischen, religiösen oder menschlichen Gründen. Die Freiheit, die sie sich im Verein erarbeitet hatten, geriet unter Druck. Doch der Geist jener Jahre lebte weiter – in Erinnerungen, in Körperhaltungen, in Bildern wie diesem.

Mehr als ein Foto

Das Bild aus der Jahn-Turnhalle Birkenfeld ist mehr als eine sportliche Momentaufnahme. Es ist ein Dokument einer Zeit, in der Frauen begannen, Haltung zu zeigen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn.

Zwischen Schweiß und Stolz, zwischen Gemeinschaft und individueller Kraft liegt hier ein Stück Geschichte verborgen. Es erzählt davon, wie junge Frauen in einer kleinen Stadt an der Nahe Teil eines großen gesellschaftlichen Wandels wurden – still, entschlossen, kraftvoll.

Wolfgang Herfurth – Juni 2025

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