Wo Fels und Glaube verschmelzen
Die sagenumwobene Kirche im Berg von Idar-Oberstein

1 Ein erster Blick
Es ist Spätsommer, kurz vor der blauen Stunde. Ich erreiche Idar-Oberstein in jenem Licht, das Häuser in Honig taucht und die Hänge des Nahetals wie gemalte Kulissen erscheinen lässt. Mein Wagen knirscht auf Kopfstein, der Motor verstummt, und in der plötzlichen Stille höre ich nur das ferne Rauschen der Nahe.
Da erhebt sich der Fels: ein steil aufragender Porphyrrücken, rotbraun wie geronnene Glut. Hoch darüber, eingeklemmt zwischen Himmel und Schiefer, schwebt die Felsenkirche – weißes Maßwerk, ein Turm wie ein erhobener Zeigefinger, Fensterrosen, die bald von innen glimmen werden. Auf ihren Schultern ruhen zwei Ruinen: Bosselstein, der ältere Wächter, und das Schloss Oberstein, einst prachtvoll, heute eine stumme Mahnung.
Ich atme tief. Hier verweben sich Staub und Legende, Mauermörtel und Märchen.
2 Die Treppe hinauf
Zweihundertdreißig Stufen führen von der Altstadt zur Kirche hinauf. Jeder Tritt knirscht wie gebrochener Schiefer. Der Duft von warmem Stein und gegrilltem Spießbraten mischt sich in die Abendluft.
Eine Frau mit grauem Dutt kommt mir entgegen, schlank wie ein Ausrufezeichen.
„Noch fünf Minuten bis zur Andacht“, sagt sie beiläufig.
„Ich bin nicht wegen der Messe hier“, entgegne ich atemlos. „Ich suche die Geschichte.“
Sie lächelt wissend: „Geschichten gibt es hier viele – wahre und erfundene.“
Ihre Schritte hallen bergab, während ich weiter hinaufsteige, immer tiefer ins Zwielicht zwischen Dächern und Himmel.
3 Ruchlose Brüder – Schatten im Gemäuer
Ein Falke kreist über den Ruinen. Ich spüre das Schaudern der alten Erzählung: Zwei Brüder, so heißt es, lebten einst hier oben, auf Burgen, die kaum eine Pfeilweite auseinander lagen. Beide verliebten sich in dieselbe Frau.
Neid, Eifersucht, ein unheilvoller Streit – und schließlich ein tödlicher Stoß aus einem Burgfenster. Der Bruder stürzte tief hinab, zerschmettert am Fuße des Felsens. Aus Schuld und Reue, so die Sage, habe der Überlebende eine Kirche in den Fels gemeißelt, Stein für Stein, bis seine Sühne erfüllt und sein Leben erloschen war.
Es ist ein Märchen von Liebe, Schuld und Erlösung. Und doch: je höher ich steige, desto deutlicher ahne ich – diese Geschichte ist nur eine von vielen Schleiern über der rauen Wahrheit.
4 Die Wahrheit unter der Patina
Oben, am Portal, lehnt ein Küster an der schweren Tür.
„Wegen der Sage hier?“, fragt er, kaum dass ich ankomme.
Ich nicke.
Er schmunzelt, doch seine Stimme ist trocken: „Schön erzählt, die Geschichte. Aber sie stimmt nicht.“
Und dann berichtet er:
Im Jahr 1482 erhielt Wirich IV. von Daun-Oberstein die Erlaubnis vom Papst, die alte, außerhalb der Stadtmauern gelegene Kirche aufzugeben. Eine neue sollte her – sicher, geschützt, würdig. Die Wahl fiel auf eine natürliche Felsnische unter der Ruine Bosselstein. Dort, wo vielleicht einst eine kleine Höhlenburg stand.
Nicht aus Reue, sondern aus kluger Überlegung ließ Wirich bauen. Der Bau dauerte nur siebzehn Monate – zu wenig Zeit, um den Felsen mühsam auszuhöhlen. Stattdessen passte man sich der Form des Gesteins an, ergänzte Mauern, Fenster, Gewölbe.
Die einzige echte Bluttat in der Geschichte der Obersteiner geschah lange davor: 1328 wurde ein Burgherr von einem Vetter erschlagen – ein Mord aus Machtgier, nicht aus Liebe.
„Wissen Sie“, schließt der Küster, „die Leute glauben lieber an Geschichten, die das Herz berühren. Auch wenn der Fels anderes weiß.“
5 Im Innern des Felsendoms
Ich trete ein. Kühle schlägt mir entgegen, schwer und feucht.
Die Mauern schimmern im Schein der Laternen, der Raum scheint nicht gebaut, sondern geboren zu sein: unregelmäßige Pfeiler, schartenartige Fenster, ein Gewölbe, das sich an den Fels schmiegt wie ein Mantel.
Eine Orgelpfeife summt leise. Ich sehe Votivkerzen, deren Flammen tanzen und Schatten über die Mauern werfen.
Und während ich durch das Kirchenschiff schreite, mischt sich in das Echo meiner Schritte das ferne Rauschen vergangener Zeiten: Hammerschläge der Bauleute, lateinische Gesänge, vielleicht auch das Flüstern derer, die sich noch immer fragen, was Wahrheit und was Dichtung ist.
6 Die Ruinenflanke – Gespräch mit den Steinen
Später steige ich noch höher – zu den Ruinen von Bosselstein.
Hier, auf verwittertem Gestein, treffe ich einen jungen Studenten, der sich Skizzen macht.
„Geschichte oder Architektur?“, frage ich.
„Beides“, sagt er. „Wer baut, der erzählt.“
Er erklärt mir, wie aus dem alten Bosselstein ein neuer Herrensitz wurde, wie Mauern errichtet und gebrochen wurden, wie Streit und Stolz schließlich zwei Burgen übereinanderwachsen ließen – wie Ranken um denselben Stamm.
Die Legenden, meint er, seien wie das Moos auf dem Mauerwerk: „Sie verwischen die Konturen. Aber ohne sie würde niemand mehr hinsehen.“
Ich denke an den Falke, der noch immer seine Kreise zieht.
7 Nacht in der Schlucht
Die Sonne stirbt, und mit ihr der Tag.
Laternen flackern entlang der Gassen. Die Felsenkirche steht nun da wie eine leuchtende Muschel im Dunkel, eingespannt zwischen Himmel und Erde.
Ich lehne am zerschlagenen Fensterbogen von Bosselstein und lasse die Szenerie auf mich wirken.
In diesem Moment scheint beides gleich wirklich: die Geschichte des mächtigen Grafen, der klug baute – und die Mär von einem reuigen Bruder, der Stein für Stein seine Schuld bezahlte.
Vielleicht, denke ich, ist die Wahrheit nicht eine Frage von Fakten allein. Vielleicht ist sie auch ein Echo im Herzen derer, die zuhören können.
8 Heimweg – Finale Gedanken
Auf dem Heimweg durch die Altstadt riecht es nach Herbstlaub, Rauch und Süßgebäck.

Ich drehe mich ein letztes Mal um.
Über mir hängt die Felsenkirche, bleich und wachsam, eine steinerne Seele im Schoß der Erde.
Fakten und Märchen tanzen einen Reigen um ihren Turm. Und ich nehme beides mit: das Wissen um den wahren Ursprung – und die Ahnung, dass Legenden oft das sagen, was das Herz besser versteht als jede Urkunde.
Idar-Oberstein hat mir beides geschenkt.
Und irgendwo hoch oben zieht der Falke noch seine Kreise.
Wolfgang Herfurth – Oktober 2024