Der Fels, der Chor und der Kanzler – Hattgenstein zwischen Wurzeln und Weitblick
Wo Gorbatschow schlief und der Wald flüstert – Ein Liebesbrief an Hattgenstein


Ein Dorf wie ein Gedicht – mit harten Kanten und weichem Kern

Wer durch Hattgenstein schlendert, spürt sofort: Hier ist mehr als Idylle. Zwischen Fachwerk, Waldrand und Fernsicht liegt ein Ort, der überlebt, sich neu erfindet und dabei niemals vergisst, woher er kommt. In 600 Metern Höhe, dort wo Rheinland-Pfalz fast den Himmel küsst, lebt ein Dorf mit 243 Seelen, das mehr erlebt hat, als so mancher Großstadt-Kiez.

Im Schatten des Hattgensteiner Felsens, der dem Dorf einst seinen Namen gab, rauscht nicht nur der Wind – hier rauscht Geschichte.


Hattgenstein – Ein Kind der Grafschaft und ein Überlebender des Kriegs

Die Wurzeln Hattgensteins reichen tief. In die Hintere Grafschaft Sponheim, bis ins 16. Jahrhundert. Schon 1580 standen hier 18 Häuser – damals ohne Markt, ohne Mühle. Das Korn wurde nach Hambach oder Schwollen getragen. Die ersten Namen des Ortes lesen sich wie ein Ahnenbuch: Kley, Barth, Götz, Link, Wagner.

Doch dann kam der Dreißigjährige Krieg. 1607 noch 21 Haushalte, 1655 nur noch drei. Plünderung, Hunger, Tod. Familien flohen, hausten in Hecken und Wäldern. Ein Dorf an der Kante.

Aber Hattgenstein rappelte sich auf. 1699 zählte man wieder sieben Familien, bis 1790 wuchs die Bevölkerung auf 177 Menschen an. Und mit ihr wuchs der Stolz.


Vom französischen Saardépartement bis zur preußischen Provinz

Hattgenstein wechselte öfter die Flagge als andere ihre Jacke: Französische Verwaltung ab 1798, oldenburgisches Fürstentum ab 1817, preußisch ab 1937, Rheinland-Pfalz ab 1946. Ein Dorf, das sich nicht beugen ließ, sondern lernte, mit jeder neuen Ordnung umzugehen.

Und mittendrin immer: das rot-weiße Schachbrett im Wappen. Erinnerung an die alten Sponheimer, Zeichen der Beständigkeit.


Ein Hauch Weltgeschichte im Waldfriede

Es klingt fast zu märchenhaft, um wahr zu sein – aber es ist überliefert: In einer Dependance des Hotels „Waldfrieden“, tief im Grünen, logierten einst Helmut Kohl, Franz Josef Strauß – und Michail Gorbatschow. Hochpolitische Gespräche unter Kronleuchtern aus Baumkronen. Weltgeschichte im Flüsterton.

Hattgenstein bewahrte wie immer diskrete Ruhe – aber der Wald weiß Bescheid.


Ein Ort mit Weitblick – geografisch und gesellschaftlich

Mit seiner Lage am Südrand des Hochwalds gehört Hattgenstein zu den höchstgelegenen Orten von Rheinland-Pfalz. Schnee, Wind, Fernsicht – das alles gibt’s hier inklusive. An klaren Tagen reicht der Blick bis in die Pfalz. 821 Hektar Fläche, davon über 70 % Wald. Und mittendrin: ein Dorf, das inmitten der Natur lebt, nicht neben ihr.

Kein Wunder, dass Hattgenstein 2015 fast in den Nationalpark Hunsrück-Hochwald aufgenommen wurde. Die Grenze verlief wenige Meter zu weit nördlich – doch Hattgenstein wurde einfach Partnerkommune und nennt sich seither stolz: Nationalparkgemeinde.


Der Hattgensteiner Fels – ein Naturdenkmal mit Charakter

Er steht nördlich des Ortes und ragt zwischen den Bäumen hervor wie ein Wahrzeichen aus Stein: der Hattgensteiner Fels. Ein Stück Erdgeschichte, ein Platz für Wanderer, ein Namensgeber. Früher wurde hier geschmuggelt, heute wird hier gestanden, geschaut, gestaunt.

Dazu kommt: der Zauberwald – ein verwunschener Pfad durch moosige Felsen, Lichtungen, Stille. Und zwei geschützte Ameisenhügel am Ortseingang, die einst Silber beim Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ brachten.


Das Glockenhaus – Symbol des Widerstands und der Gemeinschaft

Mitten im Dorf steht es: Das Glockenhaus von 1762. Mal Schule, mal Wohnung des Glöckners, mal Notunterkunft, mal Kriegswachturm. Vier Glocken hatte es bislang – die erste zersprang 1888 beim Trauergeläut für Kaiser Wilhelm I. Heute ruft die vierte Bronzeglocke von 1951 zur Einkehr.

Hier lebt Geschichte nicht im Museum, sondern in der Mitte des Dorfes. Und ja – die Kirche steht in Hattgenstein noch sprichwörtlich im Dorf.


Kindheit zwischen Kiefern und Lagerfeuer – die Magie des Zeltlagers

Es gibt Orte, die brennen sich nicht als Koordinaten ins Gedächtnis – sondern als Gefühl. Das Zeltlager in Hattgenstein ist so ein Ort. Wer hier in den Sommerferien als Kind zwischen Baumwipfeln geschlafen, an der Feuerschale Stockbrot gebacken oder die Nachtwanderung durch den Zauberwald erlebt hat, der trägt Hattgenstein für immer im Herzen.

Jahr für Jahr kamen die Kinder aus den umliegenden Dörfern zusammen. Aus Schwollen, Rinzenberg, Buhlenberg. Es roch nach Gras, Regen auf Zeltplanen und dem ewigen Holzkohleduft der Lagerküche. Morgens Taunasse auf den Stiefeln, abends Gitarrenklang unter Sternen. Freundschaften wurden hier geboren, Mutproben bestanden, erste Schwärmereien flüsterten zwischen Isomatten.

Das Zeltlager von Hattgenstein war mehr als nur Ferienfreizeit – es war ein Ort des Aufwachsens, des Entdeckens, des Kindseins mit vollem Herzen. Und für viele bis heute ein Teil der eigenen Geschichte.


Ein Chor, der Männer- und Frauengeschichten singt

1978 gegründet, 1979 schon als Gemischter Chor Hattgenstein unterwegs. Das ist gelebter Fortschritt auf dem Land. Der Chor singt auf Dorffesten, bei Gottesdiensten – und manchmal einfach so. Die Stimmen sind das Echo der Gemeinschaft, der Zusammenhalt im Takt.


Feuerwehr, Feste, Feingefühl – das Dorf lebt

Die Freiwillige Feuerwehr tut weit mehr als löschen: Sie entzündet jedes Jahr das Maifeuer, organisiert den Martinsumzug, rückt aus – gemeinsam mit Oberhambach und Rinzenberg – im Ernstfall.

Auch der Verein Hattgenstein natürlich! e.V. prägt das Dorf: mit Tai-Chi, Vorträgen, Streuobstwiesenpflege und einem neuen Selbstverständnis für sanften Tourismus. Hier wird Zukunft gemacht – mit Herz.


Ein Turm zum Träumen – und zum Rollen

Seit 2006 gibt es den Aussichtsturm auf dem Rothenberg. 29 Meter hoch, 100 Stufen, 21 Meter Plattform – und ein Ausblick, der den Atem raubt. Man sieht den Erbeskopf, den Pfälzerwald, das Leben.

Nebenan: Zorbing-Bahn, geplante Zipline, E-Bike-Ladestation, Walderlebniscamps – Hattgenstein macht nicht nur Geschichte, es gestaltet sie. Mit dem Zauberwald-Haus gibt es sogar ein Natur- und Kulturzentrum, in dem sich Kaminwärme und pädagogischer Anspruch die Hand geben.


Ein Dorf wie ein Album – mit vielen Geschichten pro Quadratmeter

Ob das Kelterhaus, das von alten Weinzeiten erzählt, die restaurierten Fachwerkhäuser, der Brunnenplatz mit Schwengelpumpe oder der Backes, in dem gemeinsam Brot gebacken wird – Hattgenstein lebt von Details.

Es sind nicht die großen Hallen, sondern die kleinen Gesten, die hier zählen. Der Gruß auf der Straße, der Apfelsaft von der Streuobstwiese, das gemeinsame Schmücken des Weihnachtsbaums.


Verwurzelt und vernetzt – Politik und Infrastruktur mit Herz

Rudi Gordner führte das Dorf über 30 Jahre, dann kamen Udo Schönwetter, Udo Laube – und seit 2024 steht Dieter Schulte an der Spitze. Die Politik ist hier persönlich, sachlich, ehrlich. Der Gemeinderat tagt öffentlich, diskutiert Spielplätze, Wanderwege und das Dorfleben.

DSL gibt’s, ein Bäckerauto kommt, der Zug in Neubrücke ist nur acht Kilometer entfernt. Keine Industrie – aber Herzblut im Hofladen, in der Schreinerei, in der Brennerei. Die Wege sind kurz, die Gedanken weit.


Bildung, Jugend, Nachbarschaft – Hattgenstein denkt weiter

Kindergarten in Schwollen, Grundschule in Niederbrombach, weiterführende Schulen in Birkenfeld – alles erreichbar. Schulbusse rollen, Eltern helfen. Die Feuerwehr hat eine Jugendabteilung, es gibt Disco-Abende im Gemeindehaus, Ostereiersuchen auf der Streuobstwiese.

Wer hier aufwächst, wächst mit Wurzeln.


Dem Himmel ein Stück näher – und dem Herzen sowieso

In Hattgenstein beginnt der Frühling später, aber der Sommer duftet intensiver. Der Sternenhimmel ist klarer, die Luft frischer. Hier oben sagt man schmunzelnd: „In Hattgenstein sind die Leute dem Himmel ein Stück näher.“

Und irgendwie stimmt’s. Wer einmal über die 100 Stufen des Aussichtsturms gestiegen ist, dem weht nicht nur der Wind ins Gesicht – sondern auch ein Stück Stolz, Teil dieser stillen, starken Geschichte zu sein.


Hattgenstein ist nicht einfach ein Dorf. Es ist ein Versprechen.
Ein Ort, an dem die Vergangenheit lebt, die Gegenwart funktioniert und die Zukunft liebevoll gebaut wird – Stein für Stein, Note für Note, Schritt für Schritt.

Wolfgang Herfurth – Im März 2025

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