Funkelnde Steine, wilde Täler – die ganze Geschichte Idar-Obersteins in einem Atemzug
Persönliche Worte des Autors
Seit über sechzig Jahren bin ich mit Idar-Oberstein eng verbunden. Zwar geboren und aufgewachsen in der Kreisstadt Birkenfeld – meiner Heimat –, habe ich einen großen Teil meines Arbeitslebens in Idar-Oberstein verbracht, Berufschule,viele Jahre an der Adlerieschule Idar-Oberstein. Einkäufe, Begegnungen und berufliche Wege führten mich immer wieder in die Edelsteinstadt, die zu einem festen Bestandteil meines Lebens wurde.
Durch die Arbeit an diesem Beitrag habe ich begonnen, Idar-Oberstein noch einmal neu zu entdecken. Die intensive Auseinandersetzung mit der Geschichte, den Persönlichkeiten und Entwicklungen der Stadt hat meinen Blick verändert. Hinter den vertrauten Straßen und Plätzen öffnen sich Geschichten von Entdeckermut, Handwerkskunst und weltweiter Verbindungen.
Es ist faszinierend zu sehen, wie reich und vielschichtig die Vergangenheit Idar-Obersteins ist – und wie sehr sie das Heute prägt. Auch nach so vielen Jahren bleibt für mich eines klar:
Idar-Oberstein funkelt nicht nur in seinen Edelsteinen – sondern auch in seiner Geschichte.
Stell dir vor, du kommst in ein enges Nahetal, über dir ragen Felsen hoch, in einer Felsspalte leuchtet eine Kirche wie ein eingemeißeltes Juwel, und darüber thronen zwei alte Burgruinen. Unten drängen sich Fachwerkhäuser, in den Schaufenstern glitzern Achate, Amethyste und Bergkristalle, als hätte jemand den Regenbogen zersägt und in kleine Stücke gelegt. Willkommen in Idar-Oberstein, der Stadt, in der Steine Geschichten erzählen – und jede Geschichte ein bisschen funkelt.
Von Keltenringen, Ritterburgen und einer Kirche im Fels
Schon Kelten bauten hier Ringwälle, Römer ließen sich Landsitze und Gräber anlegen. Doch der eigentliche Mythos beginnt 1075, als ein Ritter vom Stein in einer Urkunde auftaucht – Vorfahr des Geschlechts, das später auf der Burg Bosselstein residiert. Im 13. Jahrhundert ziehen ihre Vettern „von Daun-Oberstein“ ein paar Meter weiter den Fels hinauf und bauen das Neue Schloss. Aus Rivalität wird schließlich ein Wunder: Weil sich (so die Sage) ein Ritter im Streit um eine Frau an seinem Bruder versündigt, gelobt er Buße – und lässt 1484 eine Kirche mitten in den Fels hauen. Die Felsenkirche erhebt sich seither sechzig Meter über Oberstein, als sei sie selbst ein geschliffener Edelstein.
Das Funkeln der Achate und eine Reise nach Brasilien
Im 15. Jahrhundert entdecken findige Handwerker, dass sich die bunten Achate in den Hunsrück-Bergen mit Wasserrädern schleifen lassen. 1609 erhebt der Landesherr Oberstein zum Hauptort der Achatschleiferzunft. Doch irgendwann sind die Lagerstätten leer, und eine wagemutige Truppe wandert im 19. Jahrhundert nach Brasilien aus. Dort stoßen sie auf unvorstellbar große Achat- und Amethystadern. 1834 kommt die erste Schiffsladung über den Ozean – und macht Idar und Oberstein zum Weltzentrum der Edelsteinbearbeitung. Mit den Steinen bringt man ein neues Grillritual zurück: Fleisch, über dem offenen Feuer gegart, mit rohen Zwiebeln gewürzt – der legendäre Idar-Obersteiner Spießbraten.
Großherzöge, Preußen – und die Frage nach der Kreisstadt
Nach den napoleonischen Kriegen fällt das ganze Gebiet nicht an Preußen, sondern an das entfernte Großherzogtum Oldenburg. Man richtet das Fürstentum Birkenfeld ein, und weil Birkenfeld geografisch zentral liegt, wird dort die Verwaltung angesiedelt. Als 1933 Idar, Oberstein und sechzehn Dörfer zur neuen Stadt Idar-Oberstein verschmelzen, sitzt der Landrat längst in Birkenfeld. Auch 1937, als Preußen das Ruder übernimmt, 1945 die Franzosen kommen und 1946 Rheinland-Pfalz entsteht – das Landratsamt bleibt, wo es immer war. Heute erfüllt Birkenfeld die administrativen Pflichten, Idar-Oberstein lebt dagegen frei und groß als „große kreisangehörige Stadt“: politisch selbstbewusst, wirtschaftlich tonangebend, kulturell leuchtend.
Krieg, Aufbruch und der Glanz der Nachkriegszeit
Zwei Weltkriege bremsen die Edelsteinbranche; doch schon 1947 rattern wieder Schleifmühlen. Die Stadt wächst, 1960 erhält sie erweitere Selbstverwaltungsrechte, 1969 schluckt sie weitere neun Ortschaften. Unterdessen professionalisiert sich das Funkeln: 1974 eröffnet die weltweit erste kombinierte Diamant- und Edelsteinbörse, 1932 bereits hatte die Deutsche Gemmologische Gesellschaft ihren Sitz hier gefunden. Generationen von Händlern, Graveuren und Goldschmieden strömen in die Stadt, um ihr Handwerk zu lernen oder ihre Kostbarkeiten zu handeln.
Wenn Steine Geschichten schreiben – Wirtschaft heute
Noch immer prägen die Steine die Stadt, doch Idar-Oberstein hat gelernt, nicht nur auf einen Schatz zu setzen. Die Fissler-Werke produzieren hier Kochgeschirr, BioNTech betreibt moderne Anlagen, Automobilzulieferer fräsen Metall. Zwischen Werkshallen und Touristengassen stehen die Jakob-Bengel-Fabrik als Industriedenkmal sowie Hunderte kleiner Ateliers, in denen Designer ihre nächste Kollektion aus Citrin, Granat oder Turmalin skizzieren.
Museen, Festivals und der Geschmack von Glut
Wer kommt, besucht das Deutsche Edelsteinmuseum, streift durchs Mineralienmuseum, fährt mit Helm tief in den Steinkaulenberg oder lauscht den Wasserrädern der Historischen Weiherschleife. Im Juni duftet die Luft nach Spießbraten, wenn fünf Tage lang gefeiert, getanzt, gegrillt wird. Dann ziehen Jazz-Klänge durch die verwinkelten Gassen, später im Jahr lockt die Intergem Händler aus allen Kontinenten. Kinder toben bei den Kulturtagen, Bluesfreunde schwärmen zur jährlichen Blues-Nacht, Zauberer verzaubern auf der Kleinkunstbühne.
Sportliche Funken – und ein Hollywood-Glanzlicht

Auf dem Rasen des SC 07 Idar-Oberstein wird seit 1907 gekickt, manchmal sogar gegen Bundesligisten. Im Stadion jubelte eine ganze Stadt, als Sohn Bernd Cullmann 1960 als Staffelläufer Olympiagold gewann. Heute feuert man die Triathletin Joëlle Franzmann an, staunt über Bundesliga-Torwart Lennart Grill oder erinnert sich an Kickbox-Weltmeister Frank Bongardt. Und wenn es um glitzernden Ruhm geht: Bruce Willis machte seine ersten Atemzüge hier, bevor er die Kinowelt in die Luft jagte. Als er 2007 zurückkam, schenkte ihm die Stadt einen 25-Kilo-Amethysten – schwer genug, um sogar einen Action-Helden zu beeindrucken.
Schatten auf dem Glanz
Nicht jede Schlagzeile funkelt. 2021 erschütterte ein tödlicher Schuss in einer Tankstelle die Stadt und die ganze Republik. Idar-Oberstein hielt inne, trauerte, diskutierte, rückte zusammen. Das Ereignis mahnt: Auch Orte von märchenhafter Schönheit sind Teil der großen Welt und ihrer Konflikte.
Warum Birkenfeld Kreisstadt bleibt – und Idar-Oberstein das Herz
Das Rätsel, warum nicht Idar-Oberstein die Kreisverwaltung beherbergt, löst sich in der Zeitreise: Als das Fürstentum Birkenfeld 1817 entstand, lag Birkenfeld mittendrin, Idar und Oberstein waren noch zwei kleine Flecken. Die Schreibtische blieben dort, selbst als das „kleine Wiesenthal“ zur mächtigen Edelsteinmetropole aufstieg. Heute profitiert Idar-Oberstein von seiner Autonomie – und lässt Birkenfeld die behördliche Arbeit erledigen, während man hier funkelnde Messen, internationale Festivals und eine Hochschule für Schmuckdesign ausrichtet.
Ein letztes Aufblitzen
So ist Idar-Oberstein: eine Stadt, die Keltenringe und Ritterburgen bewahrt, aber auch High-Tech produziert; die sich an Spießbraten und Jazz berauscht, Edelsteine um die Welt schickt und olympisches Gold feiert; die eine Felsenkirche in den Himmel wachsen ließ und einen Action-Star in die Welt entließ. Und wenn abends die Lichter angehen und das Tal ruhig wird, glimmen in den Schaufenstern Achatscheiben wie kleine Sonnenuntergänge – und erzählen jedem, der hinhört, dass hier Steine lebendig sind und Geschichte Golden funkelt.