Rötsweiler-Nockenthal – Das Dorf, das zweimal geboren wurde

Rötsweiler-Nockenthal. Zwei Namen, ein Ort, ein Gefühl. Für viele ist es einfach nur ein weiteres Dorf im Hunsrück – klein, unscheinbar, irgendwo zwischen Idar-Oberstein und Birkenfeld gelegen. Für den Autor dieser Zeilen ist es mehr. Und doch – ganz anders, als man vermuten würde. Kein Geburtsort, kein Wohnort, keine familiären Wurzeln. Nur ein Ortsschild. Ein Schild, das über Jahrzehnte hinweg auf dem täglichen Weg zur Arbeit, zum Einkauf, zur Schule, zur Familie passiert wurde. Immer wieder. Fast mechanisch. Aber mit der Zeit wurde daraus etwas anderes. Heimat. Nicht weil man dort lebt, sondern weil man es kennt. Weil es vertraut ist. Weil es immer da war.
Dabei steckt in Rötsweiler-Nockenthal viel mehr, als es auf den ersten Blick scheint. Wer genauer hinsieht, erkennt: Dieses Dorf wurde nicht nur einmal geboren – sondern zweimal. Und genau das macht seine Geschichte so besonders.
Ein Ort, versteckt im Grünen
Eingebettet in ein sanftes Tal zwischen den Wäldern des Hunsrücks liegt die Doppelgemeinde Rötsweiler-Nockenthal. Nur wenige Kilometer westlich von Idar-Oberstein schlängeln sich der Aschbach und der Fleischbach durch die beiden Ortsteile, bis sie im Siesbach zusammenfließen. Im Frühjahr taucht das Hetzbachtal in ein leuchtendes Gelb wilder Narzissen – ein Anblick, der still an das Naturerbe erinnert, das hier noch spürbar ist.
Doch der stille Charme des Ortes täuscht über eine bewegte Geschichte hinweg, die tief ins Mittelalter reicht.
Die erste Geburt: Rötsweiler & Nockenthal im Mittelalter
Nockenthal wird erstmals 1324 erwähnt – damals noch unter dem Namen „Nockendail“. Rötsweiler taucht später, 1429, als „Rezwiler“ in den Urkunden auf. Zu dieser Zeit sind beide Dörfer Teil der Hinteren Grafschaft Sponheim im Oberamt Birkenfeld. Kleine, bäuerliche Siedlungen mit wenigen Familien, die von harter Arbeit auf mageren Böden lebten. In einer Welt, in der Besitz und Weiderechte wertvoller waren als Gold, geriet man leicht mit den Nachbarn aneinander – und genau das geschah: In den 1770ern mussten sogar Amtmänner aus Birkenfeld vermitteln, als die Viehherden von Rötsweiler zu weit zogen.
Auch Nockenthal war bedeutender, als es auf den ersten Blick scheint. Die sogenannte „Pflege Nockenthal“ war einst ein Verwaltungs- und Gerichtsbezirk, zu dem auch Rötsweiler, Oberbrombach, Sonnenberg und Winnenberg gehörten. Was heute kaum jemand weiß: Dieses kleine Dorf hatte einst echte regionale Bedeutung.
Verwüstung, Auswanderung und Wiederaufbau
Wie so viele Orte im Hunsrück wurde auch Rötsweiler-Nockenthal schwer vom Dreißigjährigen Krieg getroffen. Um 1600 lebten in Nockenthal neun Familien, in Rötsweiler sieben. Nach Pest und Krieg war davon kaum etwas übrig: 1699 galt Nockenthal als unbewohnt, in Rötsweiler lebten noch fünf Familien. Erst im 18. Jahrhundert erholten sich die Dörfer langsam.
Doch einfach war das Leben nie. Im 19. Jahrhundert – unter der Herrschaft des Großherzogs von Oldenburg – stagnierte die Entwicklung. Viele Menschen verließen ihre Heimat. Amerika, Brasilien – das Fernweh trieb ganze Familien fort. Wer blieb, lebte weiter vom Feld oder schleifte Achate in den Mühlen von Idar-Oberstein. Doppelschichten waren Alltag: Vater am Schleifrad, Mutter und Kinder auf dem Feld. Ein hartes Leben, aber eines mit Charakter.
Von Napoleon bis Oldenburg: Die wechselnden Herrscher
Kaum eine Region hat so oft die Flagge gewechselt wie der Hunsrück. Erst französisch, dann oldenburgisch. Nach Napoleons Niederlage 1815 landeten Rötsweiler und Nockenthal im Großherzogtum Oldenburg – obwohl dieses eigentlich im Norden Deutschlands lag. Die Verwaltung kam aus Birkenfeld, der Dialekt blieb heimisch. Ein Kuriosum der Geschichte.
Der Alltag veränderte sich nur langsam. Die Industrialisierung kam tröpfelnd. Schleifer und Landwirte prägten das Bild, die Gemeinden blieben klein. Doch die Bindung zur Heimat wuchs – vielleicht gerade, weil man so viel Entwurzelung sah.
Die zweite Geburt: 1933 wird aus zwei Dörfern eins
1933 – mitten in der düsteren Zeit der deutschen Geschichte – geschah etwas, das das Wesen des Ortes bis heute prägt: Rötsweiler und Nockenthal wurden offiziell zur Gemeinde Rötsweiler-Nockenthal zusammengelegt. Zwei Namen, ein Schild, eine Verwaltung. Es war eine rein bürokratische Maßnahme – aber sie war folgenreich. Denn aus zwei Dörfern wurde ein gemeinsames Dorf. Ein neues Selbstverständnis entstand.
Nur vier Jahre später endete auch die oldenburgische Ära endgültig. Rötsweiler-Nockenthal kam zum preußischen Landkreis Birkenfeld – und damit mitten in die Strukturen der NS-Zeit. Die ruhige Gemeinde erlebte die Wirren des Zweiten Weltkriegs hautnah.
Der Bomber über dem Sportplatz
Ein Märztag im Jahr 1945 ist bis heute unvergessen. Ein amerikanischer Bomber, angeschlagen, taumelnd, flog über das Dorf. Die Bäuerin Herta Orth und ihre Mutter sahen das dröhnende Ungetüm kommen. In letzter Sekunde warf der Pilot seine Bomben ab – sie explodierten im Wald oberhalb des Sportplatzes. Das Dorf blieb verschont. Der Krater aber blieb jahrzehntelang sichtbar – ein stummer Zeuge einer fast vergessenen Katastrophe.
Kurz darauf war der Krieg vorbei. Und mit dem Frieden kam ein drittes Kapitel in der Geschichte von Rötsweiler-Nockenthal.
Aufbruch in die Nachkriegszeit
1946 wurde Rheinland-Pfalz gegründet, und Rötsweiler-Nockenthal wurde Teil dieses jungen Bundeslandes. In den 1950er Jahren kehrten viele zurück, neue Familien siedelten sich an. Die Bevölkerung stieg: von rund 285 (1939) auf über 320 (1950). In den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders wurde gebaut, gelebt, gelacht. 1987 lebten 565 Menschen im Ort – ein historischer Höchststand.
1970 kam die nächste Verwaltungsreform: Rötsweiler-Nockenthal schloss sich der Verbandsgemeinde Birkenfeld an. Die Eigenständigkeit blieb erhalten – Bürgermeister, Gemeinderat, das Dorf hatte weiter eine Stimme.
Ein Ort, der lebt – trotz Strukturwandel
Heute leben rund 470 Menschen in Rötsweiler-Nockenthal. Die Bundesstraße 41, Teil der Deutschen Edelsteinstraße, führt mitten hindurch. Sie bringt Anschluss – aber auch Verkehrslärm. Doch das stört die wenigsten. Denn hier lebt man ruhig, verbunden, gemeinschaftlich.
Im Ort gibt es Handwerker, Bauern, Pendler. Ein Präzisionstechnik-Unternehmen mit 40 Mitarbeitern ist größter Arbeitgeber. Gleich daneben: ein Getränkegroßhandel, geführt in zweiter Generation. Dorfwirtschaft im besten Sinne.
Was Rötsweiler-Nockenthal wirklich ausmacht
Nicht die Zahlen machen diesen Ort aus. Nicht die Zugehörigkeit zu Rheinland-Pfalz oder Oldenburg. Es sind die Menschen. Und das, was sie draus machen.
⚽ Fußball mit Seele – Der TuS Rötsweiler-Nockenthal
In einem kleinen Ort wie Rötsweiler-Nockenthal spielt Fußball eine größere Rolle, als es Außenstehende oft vermuten. Der TuS Rötsweiler-Nockenthal, gegründet 1901, ist seit über einem Jahrhundert das sportliche Herz der Gemeinde – und bis heute ein fester Bestandteil des Dorflebens.
Der Verein stellt mehrere Herren- und Jugendmannschaften und nimmt aktiv am Spielbetrieb teil. Doch der TuS ist mehr als nur ein Fußballverein: Er ist Identitätsträger, Begegnungsstätte, Lebensschule. Beim TuS zählt nicht nur das Ergebnis, sondern auch das, was abseits des Platzes geschieht: Gemeinschaft, Engagement, Zusammenhalt.
Eine Anekdote, die mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist, unterstreicht genau das:
In den 70er-Jahren war Cullmanns Cousin – ja, der Cousin von Bernd Cullmann, dem Fußballweltmeister von 1974 – mein Arbeitskollege.
Und ich erinnere mich gut, wie ich damals dachte: Was ein Wahnsinn! Er sah aus wie sein Zwillingsbruder, wie direkt aus dem DFB-Kader entlaufen. Für jemanden wie mich, der selbst immer fußballbegeistert war, war das ein surrealer Moment. Und plötzlich war dieser kleine Ort mit dem großen Namen ganz nah dran an der großen Fußballwelt.
Doch auch abseits prominenter Verbindungen hat der TuS immer wieder Persönlichkeiten hervorgebracht, die das Vereinsleben mitgetragen haben: Spieler wie Adrian Alt und Martin Mayer haben das Trikot des TuS mit Stolz getragen und sich weit über das Spielfeld hinaus engagiert – bei Festen, Aktionen und im Vereinsvorstand.
Die Unterstützung durch die Mitglieder, das Ehrenamt, die Veranstaltungen – all das macht deutlich:
Hier wird nicht nur Fußball gespielt. Hier wird Dorf gelebt.
Der TuS sorgt für sportliche Betätigung, der Gartenbauverein für blühende Beete. Die Feuerwehr ist Lebensversicherung und Partyveranstalter in einem. Und dann ist da noch der legendäre Sparverein „Fleischbach-Hamster“ – eine Mischung aus Gemeinschaft, Brauchtum und Humor. Ein Dorf lebt durch seine Rituale.
2024 feierte Nockenthal 700 Jahre Bestehen. Mit Festreden, Musik, Ehrengästen. Ein Moment des Stolzes für einen Ort, der leise, aber beständig seine Geschichte schreibt.
Menschen, die Rötsweiler-Nockenthal geprägt haben
Hinter jedem Ort stehen Namen. Gesichter. Lebensgeschichten. Und auch Rötsweiler-Nockenthal hat Persönlichkeiten hervorgebracht, die weit über die Grenzen der Gemeinde hinaus gewirkt haben.
Allen voran natürlich:
Bernhard „Bernd“ Cullmann
Geboren 1949 in Rötsweiler.
Der ehemalige deutsche Fußballspieler ist der bekannteste Sohn der Doppelgemeinde.
Cullmann absolvierte in seiner Karriere 341 Bundesliga-Spiele und gewann 1978 mit dem 1. FC Köln das Double – Meisterschaft und DFB-Pokal in einem Jahr.
Noch legendärer: 1974 Fußball-Weltmeister, 1980 Europameister mit der deutschen Nationalmannschaft.
Seine Geschichte beweist: Auch in kleinen Dörfern können Weltmeister aufwachsen.
Doch Rötsweiler-Nockenthal hat nicht nur sportliche Größe hervorgebracht, sondern auch Menschen, die ihre Spuren in der lokalen Politik und im Ehrenamt hinterlassen haben:
Hans-Dieter Kappler
Von 2004 bis 2019 Ortsbürgermeister der Gemeinde. Kappler prägte über 15 Jahre die Entwicklung Rötsweiler-Nockenthals – stets bürgernah, engagiert, mit Blick fürs Machbare. Sein Einsatz wurde im Ort geschätzt und bleibt unvergessen.
Joachim Rothfuchs
Nach Kappler übernahm er das Amt, zunächst gewählt vom Gemeinderat, da sich 2019 kein Kandidat zur Direktwahl stellte. In seine Amtszeit fiel u. a. die Vorbereitung des 700-Jahr-Jubiläums von Nockenthal – ein Fest der Erinnerung und der Identität. 2024 übergab er das Amt weiter.
Angelina Huber
Seit dem 9. Juli 2024 Ortsbürgermeisterin. Mit 75,4 % der Stimmen gewählt, verkörpert sie eine neue Generation von Kommunalpolitik – engagiert, offen, generationenübergreifend. Obwohl sie nicht gebürtig aus Rötsweiler stammt, ist sie heute eine treibende Kraft in der Weiterentwicklung des Dorfes. Ihr Motto: Gemeinschaft statt Grenze.
Das Schild, das zur Heimat wurde
Wolfgang Herfurth-Der Autor dieses Textes ist kein gebürtiger Rötsweiler-Nockenthaler. Kein Bewohner. Kein Vereinsmitglied. Aber jemand, der das Ortsschild kennt, als wäre es sein eigenes. Über Jahrzehnte hinweg, mehrmals die Woche, wurde Rötsweiler-Nockenthal passiert. Es war der Übergang zwischen Alltäglichem und Heimatlichem. Das Schild allein – es steht für Vertrautheit, für Ruhe, für Heimat.
Manchmal ist ein Ort nicht wegen seiner Häuser oder Menschen wichtig, sondern wegen seiner Konstanz. Rötsweiler-Nockenthal war immer da. Und das ist – in einer Welt, die sich ständig verändert – vielleicht das Schönste, was man über einen Ort sagen kann.
Wolfgang Herfurth – April 2025