Ein Land in Trümmern – auch moralisch
Frühjahr 1945. Der Zweite Weltkrieg ist beendet. Die Waffen schweigen, aber der Frieden bleibt brüchig. Deutschland liegt in Schutt und Asche, und mit ihm auch seine Moral. Die nationalsozialistische Diktatur ist zusammengebrochen, die NSDAP zerschlagen – doch was bleibt, ist ein Land voller Unsicherheit, Misstrauen und unbeantworteter Fragen.
Im Kreis Birkenfeld trifft dieser Zustand das Herz der Bevölkerung. Über Nacht verändert sich alles. Die Alliierten übernehmen die Kontrolle, die nationalsozialistischen Strukturen lösen sich auf, alte Gewissheiten verschwinden – und die Frage drängt sich auf: Wie soll inmitten des Chaos Gerechtigkeit geschaffen werden?
Schuld, Schweigen und der Schatten der Vergangenheit
In einer Gesellschaft, in der fast jeder auf irgendeine Weise Teil eines Unrechtsregimes war – durch Mitläufertum, Anpassung, Angst oder Überzeugung – wird Gerechtigkeit zur Gratwanderung.
Wer trägt Schuld?
Wer war Täter aus Überzeugung – und wer nur Mitläufer?
Wer war schuldig – und wer wurde zu Unrecht beschuldigt?
Im Kreis Birkenfeld, wie überall in Deutschland, zeigt sich: Die Übergangszeit nach 1945 war kein klarer Bruch mit der Vergangenheit, sondern ein langsames, schmerzhaftes Ringen um Wahrheit, Verantwortung und Neubeginn.
Das Internierungslager Allenbach – Brennpunkt der Entnazifizierung
Einen zentralen Ort dieser schwierigen Aufarbeitung markiert das Internierungslager Allenbach, südlich von Idar-Oberstein. Ab Mai 1945 nutzten die US-amerikanischen Truppen, später die französische Militärregierung, das Gelände eines ehemaligen Reichsarbeitsdienstlagers, um dort mutmaßlich belastete NSDAP-Mitglieder zu internieren.
In der Spitze waren dort bis zu 2.000 Männer untergebracht – Parteifunktionäre, Lehrer, Beamte, Händler, einfache Mitglieder. Die Auswahl erfolgte nicht aufgrund gerichtlicher Urteile, sondern auf Basis von Listen, Fragebögen und oft auch Denunziationen.
Allenbach wurde zu einem Symbol für den Spagat zwischen notwendiger Entnazifizierung und menschlichem Irrtum.
Akten, Fragebögen, Menschenleben
Die Entnazifizierung basierte auf einem gewaltigen Bürokratieapparat. Jeder Internierte musste einen mehrseitigen Fragebogen ausfüllen, in dem Mitgliedschaften, Tätigkeiten, Ämter und politische Aussagen dokumentiert wurden. Daraus wurden Kategorien abgeleitet – vom Hauptschuldigen bis zum Entlasteten.
Doch die Realität war alles andere als eindeutig:
- Manche überzeugte Nazis logen sich frei.
- Manche unschuldige Bürger wurden Opfer falscher Anschuldigungen.
- Manche wurden zu Bauernopfern.
- Und viele verschwanden einfach in der Masse der Fälle.
Im Kreis Birkenfeld führte dieses Verfahren zu Verunsicherung und Wut, aber auch zu Hoffnung, dass eine neue Ordnung entstehen könnte. Das Lager Allenbach war dabei kein Ort des Terrors – aber auch kein Ort der Gerechtigkeit.
Alltag im Lager – Leben in der Schwebe
Die Bedingungen im Lager Allenbach waren hart, aber nicht lebensbedrohlich. Die Internierten lebten in einfachen Holzbaracken, die Verpflegung war karg, die medizinische Versorgung notdürftig. Was aber besonders zermürbte, war das Gefühl von Rechtslosigkeit und Stillstand.
Einige Männer wurden nach wenigen Wochen entlassen – andere blieben jahrelang, ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren, ohne Aussicht auf Klärung. Wer Beziehungen hatte oder Fürsprecher fand, kam oft schneller frei. Wer nicht – der blieb.
Und dennoch: Es war kein KZ, kein Ort systematischer Gewalt. Es war ein Ort des Verhörs, der Ungewissheit – und der stillen Aufarbeitung.
Was war gerecht – und was war es nicht?
Diese Frage stellt sich noch heute. Denn auch wenn das Ziel der Alliierten richtig war – die Säuberung von nationalsozialistischem Gedankengut – war die Umsetzung voller Widersprüche:
- Echte Täter kamen oft durch das Netz.
- Ehemalige Mitläufer verloren ihre Existenz.
- Unschuldige wurden entwürdigt.
- Schuldige übernahmen später wieder Führungspositionen.
Im Rückblick zeigt sich: Die Entnazifizierung war kein klarer Akt der Gerechtigkeit, sondern ein Versuch, Ordnung im Chaos zu schaffen – mit allen Fehlern, die ein solcher Versuch mit sich bringt.
Ein persönlicher Blick: Das Schweigen danach
Was aus der offiziellen Geschichtsschreibung oft fehlt, ist das Schweigen danach – in den Familien, den Schulen, den Gemeinden.
Ich, Wolfgang Herfurth, Jahrgang 1954, bin einer von vielen, die in einer Zeit aufwuchsen, in der der Krieg zwar vorbei war, die Vergangenheit aber spürbar, aber tabuisiert blieb.
In meiner Familie, wie in vielen anderen im Kreis Birkenfeld, wurde nicht gesprochen über das, was war. Nicht als ich fünf war – aber auch nicht als ich 14 oder 16 war. Ich spürte, dass etwas Unausgesprochenes in der Luft lag. Doch ich wagte nie, zu fragen.
Heute – viele Jahrzehnte später – bedauere ich das zutiefst. Ich wünschte, ich hätte meine Eltern gefragt. Ich wünschte, ich hätte gewusst, was sie dachten, was sie fühlten, was sie erlebten. Vielleicht hätte ich verstanden. Vielleicht könnten wir heute besser erinnern, wenn damals weniger geschwiegen worden wäre.
Dieses Schweigen – aus Scham, aus Angst oder aus Selbstschutz – ist Teil der Geschichte. Und es erklärt, warum die Erinnerung heute oft auf schwankendem Fundament steht.
Späte Aufarbeitung – und die Pflicht zur Erinnerung
Erst in den 1980er Jahren begann im Kreis Birkenfeld eine ernsthafte lokale Aufarbeitung. Historiker sichteten Archive, führten Gespräche mit Zeitzeugen, dokumentierten die Geschichte des Lagers Allenbach und der Nachkriegszeit.
Vieles blieb fragmentarisch. Vieles kam zu spät. Aber es war ein Anfang.
Heute – zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs – ist es umso wichtiger, sich zu erinnern. Nicht nur an die großen politischen Entscheidungen. Sondern an das, was im Verborgenen geschah: In den Lagern. In den Küchen. In den Herzen.
Denn die Geschichte des Lagers Allenbach und der Entnazifizierung im Kreis Birkenfeld ist nicht abgeschlossen. Sie wirkt weiter – in Fragen, in Lücken, in Familien.
Fazit: Nie wieder beginnt mit dem Erinnern
Der Versuch, nach 1945 eine neue Gesellschaft zu errichten, war schwierig. Manches war notwendig. Manches war ungerecht.
Das Lager Allenbach war ein Ort zwischen Gerechtigkeit und Verzweiflung. Zwischen Hoffnung auf Neubeginn – und den Fehlern einer Welt im Umbruch.
Doch eines ist klar:
Nie wieder ist keine Floskel.
Nie wieder ist eine Aufgabe.
Und sie beginnt mit dem Erinnern.
Wolfgang Herfurth – Mai 2025